8 Tage Thüringen

SCHLEICHPFADE ZU KLEINKUNSTBÜHNEN
Acht Tage Thüringen

1. INTRO
Wovon ich erzählen will, das ist jetzt ein gutes Jahr her. Im November 95 hatte ich 7 Auftritte in Thüringen und einen im Harz. Eigentlich nichts Besonderes – wo ich auftrete, muß ein Klavier stehn, meine Zuhörer sollten sitzen können, und ich muß anderthalb Stunden lang Zeit haben für mein Gemisch aus Liedern, Sketchen und schrägem Zeug. Ich mach das ziemlich oft.

Das Besondere war: Ein Ortskundiger hatte mir die Tour zusammengestellt: Fred Böhme, Museumspädagoge und Maler in Bad Frankenhausen. Auf seiner Kleinkunstbühne war ich mal aufgetreten, wir hatten viel Spaß gehabt, und er hatte gemeint: Hier in der Gegend gibt’s einiges, was du nicht kennst, wo du auch spielen könntest. Dann telefonierten wir, tauschten tatsächlich Verträge, Plakate, und irgendwann packte ich meinen Koffer, und es ging los.

Vielleicht sollte ich erstmal beschreiben, wie ich mich unterwegs fühle: Wie eine bepackte Ameise nämlich. Ich fahre immer mit der Eisenbahn, wenn ich auftrete, und stakse vorsichtig von Ort zu Ort. Links mein schwerer rollender Koffer, rechts die leichtere Reisetasche, und alles hat seinen bestimmten Platz an mir: die Bahnfahrkarte, das lose Wechselgeld, das Portemonnaie… Wie ich den Druck der Gegenstände auf meinen Körper genieße, und wie die Körperstellen die Gegenstände bewachen… Vielleicht führt das ab – aber dieses Herumtouren von Ort zu Ort ist schon seltsam: Jede Nacht treffe ich fremde Menschen, und tagsüber bin ich allein – auf eine mir angenehme Art wunderlich.
“Wiedermal auf Ost-Tour”, hatten mich Freunde vorher gefragt – obwohl Thüringen von Berlin aus südwestlich liegt, das alte Spiel, wir waren mal Westberliner gewesen… Und ich hatte genickt und mir vorgenommen, ein paar Notizen zu machen. Nur die paar Sachen, die einem so auffallen, wenn man auf Arbeit geht…

Übrigens merkwürdig, wie die Anspannung nachläßt in einem halbleeren Bummelzug. Die Landschaft wird größer, ich selbst werde kleiner, und meine Neugier wächst. Das hat mit einer geradezu kindlichen Überzeugung bei mir zu tun, daß eine fremde Gegend, durch die ich nicht wegrauschen kann wie im Intercity, mich überraschen muß. Wird sie auch, dachte ich, als ich von weitem den Kyffhäuser sah – oder einen anderen Hügel, den ich grad dafür hielt…

Jeder Landstrich hat seine Gebräuche. Und jeder Handelsvertreter weiß das. Kabarettisten, Liedermacher und Literaten sind ein bißchen Zigeuner, aber eher noch Handelsvertreter. Wir hoffen auf Gleichgestimmte, aber wollen unsere Sachen natürlich auch allen anderen nahbringen. In den neuen Bundesländern – oder wie man jetzt so gern sagt, in den jungen – bin ich anfangs begeistert gewesen von einer Art Innigkeit, die sich zwischen mir auf der Bühne und denen, die zugehört haben, hergestellt hat: Von der Möglichkeit, eine Geschichte ganz ruhig von Anfang bis Ende erzählen zu können. Ohne zu langweilen. So ist es in Bad Frankenhausen gewesen, wo Fred Böhme immer ein etwas wackliges E-Piano angeschleppt hat, um das herum dann alle saßen, und es war wie im Wohnzimmer. Auch, daß sehr unterschiedliche alte und junge Menschen gleichzeitig da waren, fand ich toll. Technische Pannen konnte es keine geben, es gab kaum Technik. Natürlich weiß ich, daß ein Abend, wo alle mitschwingen, nur ganz selten vorkommt. Ich glaube auch nicht an das sog. Familiengefühl in der Ex-DDR, von dem neuerdings so geschwärmt wird. Für so etwas waren meine Erfahrungen als Bühnenpartner von Gerhard Gundermann und Gerulf Pannach zum Beipiel zu unterschiedlich. Ich denke, deren jeweiliges Publikum wird sich im Alltag eher aus dem Weg gehen. Ich selbst mag das Brüchige. Wo etwas zerfällt, und was Neues wächst ganz leise nach. Eigentlich bin ich immer auf der Suche danach. Hier zum Beispiel, gerad jetzt, nach dem Aussteigen, beim Warten auf einen Anschlußzug…

2. BAHNHOF WEGELEBEN

… am Bahnhof Wegeleben, Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Thüringen. Hier fahren Züge von Halle nach Magdeburg durch, man steigt um, wenn man in den Ostharz will, z.B. nach Quedlinburg, oder südlich ins Mannsfeldische. Wer hier Ja meint, sagt Nu, was nach Aufforderung klingt, im Sinne von ‘Und wie’ … (“Hast du Hunger?” – “Nu …”) Bahnhof Wegeleben liegt vor dem Ort, man steht frierend am Bahnsteig, während man auf die Regionalzüge wartet. Durch schnarrende Lautsprecher werden sie immer schon lange vor ihrem Eintreffen angesagt, aber man sieht keinen Bahnbeamten. An der zugenagelten Tür zur Restauration mit den zerschmissenen Fenstern hängt ein vergilbter Zettel: ‘Geschlossen ab 1.12.90’. An den Wänden der Gleisunterführung die übliche, konzentrationslose Graffiti, nur einmal gebündelt in Regenbogenfarben für das Wort ‘Verkohlt’. Rostige Stahlträger, wurmstichiges Holz. Wenn ein Zug kommt, springt der Abfertiger vorne raus, beobachtet das Ein – und Aussteigen, murmelt etwas in ein Funksprechgerät und gibt dann sein Signal. Wie von Geisterhand geleitet, bleiben die Reisenden jeder für sich und abweisend – oder bilde ich mir das ein? Wären sie durch ein paar Glaswände, Fotoautomaten und einen blitzblanken Neon-Imbiß aufzuheitern? Ich schließe die Augen und genieße es plötzlich, daß hier noch keine Musik läuft, daß ich hier nicht auf einem Barhocker balancierend 7,90 DM verspeise unter der Bedingung des absoluten Rauchverbots… Aber ich bin auch kein Schulkind, daß täglich hier umsteigt.

Umständlich versucht eine ältere Frau, als unser Zug endlich hält, von innen die Tür zu sich ranzuziehen. Sie keucht dabei. Ein Schulkind drängelt an ihr vorüber – “Die schließen von selbst”, ruft es. “Ach so”, sagt die Frau enttäuscht.

3. QUEDLINBURG

“Dieses Land hat für mich gar nicht existiert”, ruft Anselm mit triumphierendem Blick, und Andreas lehnt sich höhnisch zurück: “So, und wie bist du dann groß geworden da drin?” – “Wir haben hier unsere eigene Welt gehabt, unsere Kirchen-Welt”, erklärt Anselm, “drum herum, was sich DDR nannte, da wurde man doch nur passiv gemacht und hörig …” – “Kirchen-Welt”, höhnt Andreas, “Du bist doch nur einer von denen, die über Ungarn auf und davon sind und dann reumütig wieder zurück …” – “Das ist nicht wahr!” – “Dann eben nicht – aber mit eurer Generation war die Geschichte gelaufen, und für mich war das Land mehr wie … na, wie ‘ne Mutter gewesen …” Andreas ist vielleicht Anfang Vierzig und von Beruf Schauspieler; er läßt nur ungern jemand ander’m das Wort. Anselm ist fünfzehn Jahre jünger und leitet ein evangelisches Jugendzentrum in Quedlinburg – ein kleines, feuchtes Häuschen neben der Kirche. Sein Zentrum hat den Ruf eines Autonomentreffs – es gibt in dem scheinbar idyllischen Quedlinburg eine äußerst fleißige Autonomen-Szene, nicht unbedingt so beliebt im Ort. In Anselms Zentrum fand grad mein Auftritt statt. Andreas hatte sich erst gar nicht reingetraut, wie es auch ein paar anderen eher bürgerlichen Zeitgenossen im Publikum so gegangen war: “Und hier soll jetzt wirklich ein Konzert sein? Wär ja das erste Mal …” Als Andreas aber mal drin war in dem Zimmerchen mit dem bullig warmem Eiserofen und mit den Klappstühlen, den linksmoralischen Sinnsprüchen an den Wänden und der kleinen Theke am Kopfende, füllte er gleich den Raum aus mit seinem Gerede: “Ich mach auch Kabarett, weißt du!? Irgendwas muß man ja tun, das Gefühl, sich zu wehren, man wird ja sonst nur verarscht neuerdings…” Anselms berechtigte Sorge war es gewesen, ob seine Autonomen ihn nicht im Stich lassen würden bei seinem ersten Programm nach eigener Wahl – “Acht Mark?”, mit stolz-verlegenem Lächeln kehrten so einige Jünglinge gleich wieder um – “… Und ich biete denen hier ein Forum für ihre Sachen… Ich nehm soviel auf meine eigene Kappe… Ich bin schon enttäuscht …”. Andreas triumphierte gleich wieder: “Tja. Mit Kultur lockst du keinen mehr raus. Das ist ja alles plattgemacht worden …” – “Kultur zum Nulltarif kann es nicht geben …” – “Gab’s aber mal …” – “Aber um welchen Preis?” – “Na, um keinen, das sag ich doch gerade …”
Beim Spielen mußte ich ganz schön powern. Durch die Zuhörenden ging eine deutliche Trennlinie zwischen denen, die freundliche, intelligente Unterhaltung bevorzugen und den anderen, die es nach Aggressivität und Moral verlangt. Bei meiner wahren Geschichte von den naiven zwei rechtsradikalen Skinheads aus Leipzig, die mich mal in Kreuzberg besuchen wollten und zweihundert Meter vor’m Ziel von einer türkischen Gang gleichen Alters zusammengeschlagen wurden, blieb ein paar Jugendlichen der Mund offen – das war natürlich politisch nicht so korrekt. Aber das anschließende Lied von dem Traum, in dem die Kinder einer Stadt gemeinsam verschwinden in eine andere Welt, das kam dann rüber. Jetzt ist dieses Konzert schon zwei Stunden her. Ich hocke mit Anselm und Andreas auf der Empore einer Bar mit Überblick über die Zockerszene von Quedlinburg. Andreas hat längst von Frau und Kindern berichtet in Senftenberg , wo er herkommt, und die er verlassen hat, als das Theater dort Stellen streichen mußte – wie er seinen Traum vom ruhigen Schauspielerleben am Ort. Jetzt jobbt er fern der Heimat, kommt nicht weg und könnte im Monat vielleicht 300 DM nachhause schicken – wenn er sich nicht auch noch verliebt hätte (“in eine aus München – ausgerechnet ich…”).
Anselm dagegen hat seine Zukunft noch vor sich; die Sicherheit, die für Andreas verschütt ging nach 89, läuft auf ihn jetzt zu, und seine guten Taten werden ihm vielleicht mal belohnt werden. Und während unten an der Theke die Scheine auf den Schenkeln braungebrannter Bengels wechseln wie die Mädels mit den hochgerutschten Jeans, werden Anselm und Andreas und ihr Streit immer kleiner – eigentlich werde ja ich kleiner, ich trinke Weißwein mit Schierker Feuerstein, eine tödliche Mischung – und der Techno dröhnt um uns rum, wie wohl überall auf der Welt, wo noch nachts um Drei gezockt und geflirtet wird.
Auf dem Nachhauseweg frage ich Anselm, was die vielen Gerüste an den windschiefen Fachwerkhäuschen bedeuten, zwischen denen wir langgehen – “Rekonstruktion”, sagt er, “das ganze Viertel hier befindet sich in der Rekonstruktion – aus EG-Mitteln…”

4. ALTENBURG

Der professionellste Club auf meiner kleinen Tournee war das ’Kosma‘ im Dorfe Kosma bei Altenburg. Hier, in einem aufwendig renovierten Gasthof mit Saal, Restauration und Kellerbar treten anerkannte Größen des Kleinkunstgewerbes auf, bekannt oft aus Funk und Fernsehen. “Für Sie wird es nicht ganz einfach sein”, warnte mich Herr Lowisch, Besitzer und Leiter des Ganzen, “wir verkaufen natürlich leider am meisten Karten bei DDR-Nostalgie… Antrak auf Stumphsinn, das könnt‘ ich hier monatlich machen…”
Herr Lowisch gehört zu der Sorte Veranstalter, die ihren Laden im Griff haben und sich Gedanken um das Programm machen. Mich ließ er nachmittags spielen – in der Hoffnung, Jugendliche zu gewinnen für meine Sachen, von denen er fand, sie müßten von möglichst vielen gehört werden. Gut ausgestattet mit Licht und Tonanlage, wartete ich ab 16 Uhr im leeren Saal. Mir fielen die zahlreichen Kellnerinnen und Barmänner auf, alle beschwingt und geschäftig, als träfen sie letzte, elegante Vorbereitungen für einen zu erwartenden Ansturm. Immer wieder wurde ich von ihnen gefragt, ob ich noch etwas wünsche… “Sagen Sie‘s, sagen Sie alles, was Sie noch brauchen”, hatte Herr Lowisch mich aufgefordert.

Die Schlange an der Kasse mit verlegenen Landjugendlichen und ein paar ausgehgeschmückten Damen war dann gut zu verkraften – rund hundert Plätze im Saal wurden besetzt -, und ich gab mir wirklich Mühe, über meine hier offenbar völlig fremd und exotisch wirkenden Erlebnisse im fernen Berlin, rund 300 km weit weg, zu berichten. Der Funke wollte nicht recht – sicher ist es für lärm – und tanzgewohnte Jugendliche schwer, mal eine Stunde stillzuhalten – und für ältere Damen ist es nicht angenehm, aus ihren Träumereien durch Kichern und Kabbeleien am Nebentisch gerissen zu werden. Dieser Nachmittag hatte etwas von einem Volkshochschul-Ereignis, und es tat mir unendlich leid, daß ich nicht ein paar lustige Schlager auf Lager hatte oder ätzende Bemerkungen über den Kleinwuchs von Norbert Blüm und die gierigen Augenbrauen von Waigel…
Herr Lowisch schien sich über sein Publikum sogar zu ärgern. Jedenfalls hielt er ihm nach dem letzten Stück eine Art Standpauke. Und als ich in der feinen Garderobe meinte, das wär doch alles halb so wild, da antwortete er mit etwas Erstaunlichem:
“Das haben die mal gebraucht. Wissen Sie”, er wurde vertraulich und zog mich am Arm, “letzten Monat hatten wir hier im Saal eine Veranstaltung mit 260 mittelständischen Unternehmern. Brav wie die Delegierten haben die ihren Vorstand gewählt, haben sich Reden gehalten und sich gefeiert – genau wie früher, nur mit den neuen Vokabeln… Und glauben Sie mir, von den 260 waren 200 zu diesem Zeitpunkt schon pleite. Und alle wußten es. Aber keiner hat es erwähnt.”

Herr Lowisch mußte leider gleich anschließend zu einem Geschäftstermin, ich konnte ihn nicht mehr fragen, wie seine Geschichte gemeint war. Sobald er den Club verlassen hatte, bewegten seine Angestellten sich plötzlich ganz schleppend, knallten die Teller lieblos herum, und wir paar Zurückgebliebenen im Saal waren eher wie Hindernisse. Ich bestellte mir was zu essen. “Das muß jetzt aber bezahlt werden”, sagte die Kellnerin.

5. ILMENAU

Wie mir die Leiterin des kleinen Heimatmuseums zu Ilmenau nach meinem Auftritt einen Blumenstrauß überreicht hat, daran denke ich irritiert zurück. Vierzehn ältere Herrschaften hatten mir auf Klappstühlchen im feinen Rokokozimmer zugehört, Mitglieder eines Kulturvereins mit langer halbstaatlicher Tradition. Ihren Erwartungen an ein tages-aktuelles Kabarett im Jahr Sechs nach der Wende habe ich sicher nicht entsprochen, aber ich glaube, irgendwann mochten sie meine Art zu erzählen. Nur eine Dame war bald gegangen – ich hatte gerade ein Spottlied auf die Roten Socken‘ gesungen (nach Chris de Burgh, Lady in Red ((machen!)) und ein paar eher unfreundliche Bemerkungen über den Dichter St. Heym im Bundestag angefügt, da stand sie auf und rief deutlich: “So nicht!” Und während die Tür zuschlug, sah ich, wie das angespannte Gesicht der Museumsleiterin sich kurz aufhellte. Beim Weiterspielen fiel mir ein, daß sie schon vor dem Konzert, als ich mit dem Techniker auf sie gewartet hatte, ganz außer Atem angelaufen gekommen war, ihre Armbanduhr gezückt und aufgebracht betont hatte, laut Vertrag sei sie aber doch pünktlich. Bald darauf informierte sie mich über den fast völligen Wegfall von kultureller Versorgung in Ilmenau. Und daß wir in einem Land leben, das zur Bildung der Menschen nichts beiträgt. “Na, Sie kennen das ja nicht anders”, sagte sie noch. Die eigentlich attraktive Frau litt an etwas. Es ist gefährlich, beim Spielen an sowas zu denken, aber sie saß mir direkt gegenüber, betrachtete ihre Armbanduhr und folgte dem Vortrag so mißbehaglich, daß sie mich einmal fast rausbrachte. In der Pause bat sie mich, nicht zu rauchen, aber während der ersten Zugabe lief sie raus, um die Blumen zu holen.

Mit Christian D., dem Techniker, saß ich nach dem Auftritt noch in einem Cafe´, in dem ’alles wie vorher‘ war, wie er mir erklärte: Plastesamtsofas rund um die Wände, in denen man hüfttief versank, runde kleine Holztischchen symmetrisch im Raum verteilt, Spitzenvorhänge, schulterhohe Täfelung und ein Wirt, der die paar Gäste – Menschen um die Vierzig – in einer Art von rauher Duldung bediente. ”… alles bis auf die Lampen”, sagte Christian begeistert, hier könne man sich noch in Ruhe erholen. Wir sprachen auch über mein Programm. “Kabarett war das nicht”, faßte Christian zusammen und erklärte mir, daß dann mindestens der Kanzler Kohl tüchtiger sein Fett hätte wegkriegen müssen. Ich erfuhr auch einiges über die Haltung der wertkonservativen Ilmenauer Bürgerschaft, dem Publikum des Museumsvereins, eben nicht PDSler (wie ich angenommen hatte), sondern neuerdings eher CDU-Wähler oder sogar deren Mitglieder, aber widerspruchslos dazu ‘Anti-Wessi’: “Die CDU ist die neue Staatspartei hier, und vom ’Rat der Stadt‘ in die Dezernentenverwaltung ist kein so weiter Weg.” Ich sah die Lebenslinie dieser regierenden Schicht einer Kleinstadt plastisch vor mir: Menschen, zum Schwimmen geboren. Christian, der Techniker, hat dagegen erst einmal Mikrowellen-Ingenieur gelernt, später umgeschult auf Computer-Programmierer bei Robotron, war kurz vor der Wende dort in Ungnade gefallen und hielt sich als Korbflecht-Hilfsarbeiter für 300 Ostmark im Monat am Leben. Er kam dann über‘s ABM-Programm in die Stadtverwaltung, steuerte in den Kulturbereich und befindet sich jetzt im Absprung zur Selbstständigkeit: Er will Musikveranstalter werden. Am späten Abend, wenn er verpusten will, zieht er bei all dem Wandel dann ein Cafe´vor, wo es (bis auf die Lampen) wie früher ist.

In Ilmenau war am 11.11. auch Fasching. Es lag schon Schnee. Ich nahm nachts im Hotelsaal an einer Tanzorgie im herzrasendschnellen Rhythmus teil. Und durch Zufall geriet ich zur Nachfeier in eine der Wohnungen im Neubauviertel, Golan-Höhen genannt, rund um das alte Ilmenau wie die Ränge eines Stadions noch zu DDR-Zeiten errichtet… Das Leben tobte…

Aber mit welcher Geste mir die Museumsleiterin an diesem Abend den Blumenstrauß überreicht hat, das war schon toll. ‘Ist hier von früher her üblich, mein Lieber, das lasse ich mir nicht nehmen, auch wenn du uns anderthalb Stunden genervt hast, und nichtmal erwähnt, wie wir über den Leisten gezogen worden sind…’ Das hat sie natürlich nicht gesagt, sie sagte nur: “Gute Fahrt dann”. Aber da sah ich sie plötzlich vor mir – und vielleicht täusch ich mich ja auch gründlich -, ich sah sie als Vorsitzende einer Kultur-Kommission und hatte Rechenschaft abzulegen nach einem Probe-Vorspiel und überlegte schon mal, welche sinnvolle Tätigkeit für die Gemeinschaft ich ab jetzt würde ausüben wollen, anstatt weiter Staat und Gesellschaft so zu schädigen.

6. GREUSSEN und REISESPLITTER

Das Landstädtchen Greußen zwischen Nordhausen und Erfurt unterzieht sich einer Schönheitsoperation. Marktplatz und mittelalterlicher Ortskern prunken schon in jenem Zustand von faltenlosem Alter, auf den die Stadtväter immer so stolz sind, aber die gewöhnlichen Viertel liegen noch lange als Bauwüsten brach. Und, so wie man als Arzt oder Verwandter wohl auch sorgenvoll am Bett einer frisch Operierten steht und einigermaßen beklommen auf das zubandagierte Gesicht starrt nach einem Schönheitseingriff und natürlich nicht weiß, ob sich neuer Glanz oder Horror dahinter verbirgt, so sah ich in Greußen Vermessungstechniker, Rohrleger, Baggerfahrer, Stadtbeamte und Bauführer, quer durch den Ort verteilt und mit Plänen und Meßgeräten bestückt, sorgenvoll auf das Chaos starren, das sie angerichtet hatten. Sie standen in metertiefen Pfützen, auf ausgeworfenem Pflaster, Steinhaufen, oder balancierten über schmale Holzlatten, Sickergruben und Schamott unter sich, einander unverständliches, aber befehlshaberisch klingendes Zeug zurufend. Weit weg von ihnen, in stillen Wiesen, ging grad die Sonne unter. Und die emsigen Bürger schleppten durch all die Hindernisse, im gleichen Abendsonnenschein und parallel zu einem kilometerlangen Feierabendstau von Autos ihre Einkaufstüten, Aktentaschen – wie ich meinen Koffer. Wenn dieses Städtchen mal fertig operiert ist, dachte ich, dann wird hier, wer immer den beliebten Satz nachplappert, früher wär’ es doch schöner gewesen, bestimmt gelyncht. Und mit Recht!

Mein Auftritt dort fand übrigens im ‘Goldenen Löwen’ statt; der junge, freundliche Bürgermeister fuhr mich im Auto hin – schwupps, ging‘s in sausender Fahrt durch die Baustellen, Hebungen, Senkungen -: “Bis Weihnachten haben wir das Gröbste überstanden”, rief er mir gängewechselnd zu – “Bis Weihnachten”, fragte ich ungläubig zurück. “Nur mit Jammern wird nie was”…
Im Saal vom Goldenen Löwen‘, einem grundsoliden Gasthof, vorwiegend ältre Semester – aber freundliche Menschen, die gern einen Spaß haben. Der Abend wurde allerdings von etwas ganz anderem beflügelt: Von der jungen Bürgermeistersfrau, einer Polin und Malerin. Mein Freund Fred aus Frankenhausen war auch erschienen, und die beiden hatten schnell einen Streit über Kunst und Ästhetik angefangen. “Ist das denn Kunst”, fragte da zum Beispiel sie und zeigte auf einen leeren Stuhl am Tisch. “Nein”, darauf er und winkelte den Stuhl etwas an, legte ein Kissen darauf und eine Serviette, “aber jetzt isser’s. Wenn ich was mit ihm mache, dann ist das Kunst…” Wieder sie: “Das ist Schwachsinn und Zweckentfremdung, nichts weiter…” Sie konnten diese Rollen auch durchaus tauschen, und daß ich irgendwas da vorne zum Besten gab, störte sie nur ganz selten… Der Bürgermeister, zwischen den beiden am vordersten Tisch, sann – ich glaube, ich vermute da richtig – immer weiteren Bauplänen nach… Ich erinnere mich, wie nach dem Konzert die polnische Malerin und mein Freund Fred bei Picasso angelangt waren (“Ich habe ihn zu Picasso gezwungen!”, rief die Bürgermeistersfrau und zeigte auf ihren Mann), als ein höflicher, vielleicht nicht ganz nüchterner Tresengast auf mich zutrat, mir auf die Schulter klopfte, dann mit den Fäusten leicht aufs Klavier, und mehrmals sagte: “So schön gespielt, schön gespielt…” Ich fand, das war der Gipfel in ihrer Kunst-Diskussion.

Auf der rasanten Rückfahrt – schwupps, Hebung, Senkung – schimpfte Frau Bürgermeisterin über das ewige Gebaue und die spießigen Deutschen mit ihren Gardinen vor‘m Fenster, während ihr Mann sich entschuldigte, er sei mit den Gedanken leider längst schon bei der nächsten Besprechung mit dem Vermessungsamt…

Und morgens im kleinen Hotel dann, allein im Frühstücksraum, von nebenan zwischen einem anderen Mann und einer anderen Frau ein Gespräch, das ich nicht wagen würde, mir auszudenken:

– Ich will deinen Ring jetzt noch nicht.
– Aber ich fahr doch heut mittag.
– Sagst du‘s ihr denn diesmal?
– Wahrscheinlich. Und übernächste Woche bin zurück. Ich ruf dich jedenfalls abends aus Dortmund noch an, Schatz.

Altgedienter Zugbegleiter auf der Strecke zwischen Weimar und Halle: “Eingestiegen! Und Fahrscheinkontrolle jetzt!”

Losverkäufer in seinem Büdchen in Gera zu zittrigem Mütterchen, das im Portemonnaie hantiert: “Gleicher Preis wie damals! Und gewonnen hat damals auch keiner, nich?” Sie darauf, ihre Münzen zückend: “Aber schöner war’s doch, gelt!?”

Mein Auftritt in Weimar ist ausgefallen. Er sollte in einem großen, ehemaligen Kulturhaus stattfinden, aber es kamen nur 4 Interessenten. Da hockten wir dann – das Personal – zu fünft, tranken Bier und plauderten: Die Kulturhausleiterin, der Hausmeister, der Techniker, eine junge Frau und ich. Immer, wenn einer der vier Zuhörer durch den Eingang kam, sprang die junge Frau auf, eilte hinter eine Art Holzver-schlag, nahm erwartungsvoll einen Kleiderbügel zur Hand – aber keiner der vier wollte ihr seine Garderobe überlassen, obwohl es nichts ge-kostet hätte. Dann setzte sie sich wieder zu uns – ich glaube, sie war nicht weniger enttäuscht als ich, daß sie nicht arbeiten durfte…

7. GERA – LUSAN

“Also, das geht doch etwas zu weit” – der dicke Pfarrer verschränkt seine Arme und lehnt sich zurück. Sein Freund, der silberhaarige hagere Pfarrer legt seine Stirn in Falten und hebt beschwörend die Hände – er hat eben die Ex – DDR ein “Verbrechersystem” genannt. Wir haben einen wunderbaren Abend hinter uns, ich besonders, denn ein so ausgeruhtes, nuancenfreudiges, auch jugendliches Publikum wie im Pfarrhaus von Gera – Lusan findet man selten. Hier wird direkt am Altar musiziert, und fast alle namhaften Widerständler des alten Regimes sind hier mal aufgetreten. Während der dicke Pfarrer vorher immer aufgeregt hin und her gelaufen war und Kontakt gehalten hatte mit den Besuchern, kam der silberhaarige um Punkt Acht, und dann hieß er beginnen. Geneigten Kopfes und den Nuancen folgend, war er ein wenig der geistige Vorturner seiner Gemeinde gewesen. Im Anschluß an die Zugaben bedankte er sich.
Jetzt streiten wir über Vergangenes. Wie sich noch vor zehn Jahren aus einem solchen Konzert eine Mundpropaganda quer durch die Republik entwickelt hätte… “Vorzüge einer Erziehungsdiktatur?”, werfe ich vorwitzig ein und ernte natürlich Protest. Allerdings: Zu viel Kritik gehe heutzutage ins Leere – damals habe man immer gewußt, ‘wogegen man war’ – dies der Satz, den ich von den verschiedensten Menschen während der letzten Woche am meisten gehört habe. Ich lasse mir von den Friedenszirkeln in Jena und Gera erzählen: der dicke und der hagere Pfarrer fallen sich jetzt ins Wort, und ich spüre ihre Begeisterung, ihren vergangenen Schwung, auch die Wichtigkeit, die ihnen einmal zukam. Vielleicht hat der Hagere auch deshalb vom “Verbrecherstaat” geredet: um sich selber zur Ordnung zu rufen, denn mit der modischen DDR-Nostalgie hat man hier nichts gemein. Ich bin eigentlich das erste Mal mit Menschen zusammen, die die neue Ordnung ganz rückhaltlos begrüßen, die sich befreit und jetzt aufgehoben fühlen. Daß in einem meiner Lieder der Pfarrer der einzige im Viertel ist, der noch einen Job hat, “wenigstens einer, gottseidank”, das stieß ihnen etwas säuerlich auf. Von den Problemen ihrer Jugendlichen wissen sie natürlich – sie sind auch ratlos, und der dicke Pfarrer sagt dann den entscheidenden Satz -: “Diese Kids heute abend, das sind doch schon längst keine DDR-Kinder mehr!”
Da liegt also jetzt ein Hauch von konservativer Wehmut über dem Pfarrhaus – und vielleicht die vage Ahnung, daß der hier gepflegte kluge Umgangston den Sozialingenieuren und Sparkommissaren einmal keine müde Mark und kein Stück Einsatz mehr wert sein wird. Auf meine bissigen Fragen in diese Richtung gehen die beiden Herren nicht ein, und daß mich manches an der Ex-DDR fasziniert, das macht sie schließlich leicht ärgerlich. “Sie wohnen da in Ihrem elften Stock und glauben, Sie hätten eine Art Überblick, aber ich lebe – was dieses Land betrifft – nun einmal im Parterre, und ich weiß, welchen Müll ich übers Geländer geworfen kriege, was ich gesehen habe …” So das Schlußwort des Hageren – ich bin ein wenig beschämt und hätte gerne noch etwas erwidert, aber es ist spät, und weil man im Pfarrhaus nicht rauchen darf, weiche ich weiterem freundlichen Streit diesmal aus.

 

8. TAXENEPISODE JENA

Ein grauer Montagvormittag. Nach einem tollen Auftritt in Jena stehe ich am Gartentor einer Jugendstil-Villa und warte. Die Villa gehört einem Professoren-Ehepaar, bei dem ich logiert habe. Mein Taxi kommt. Der Fahrer, ein flachsblonder junger Mann, sieht mich in meinem uralten Pelzmantel, steigt aus und hilft mir, den schweren Koffer hinten zu verstauen. “Oh – ist da wohl Geld drin”, sagt er halb zu sich selbst, und ich ahne, er meint es ernst. Ich zucke mit den Schultern und setze mich in den Fond. “Bahnhof Jena-West”, ist mein Fahrziel. Wir holpern aus der Villengegend heraus und plaudern eine Weile über den Frühling, der bloß bald wieder kommen soll, über die Unfähigkeit der Stadtverwaltungen, und daß alles teurer wird. “Ich zahl immer erst, wenn die mahnen”, sagt der junge Mann, “Finanzamt – das sind doch Wegelagerer …” Ich erwähne ein paar Kneipen, die ich mir gestern nacht noch angeschaut habe, und er fragt mich überraschenderweise, wie die Geschäfte denn so laufen … Ich zucke wieder die Achseln. Als der Bahnhof Jena-West in Sicht kommt, lehnt er sich zurück und seufzt. “Und von hier aus dann nach Frankfurt am Main …”, fragt er und beobachtet mich durch seinen Rückspiegel. “Nein”, sage ich und schaue ihm auf gleichem Weg in die Augen, “jetzt muß ich erst noch nach Gera. Ins Lusan. Wie jede Woche…” Ich nenne einfach meinen nächsten Auftrittsort. Ich weiß nicht, warum – aber es macht mir Spaß, seinen Verdacht zu bestärken. Ich zahle, lasse mir eine Quittung geben, und dann wuchten wir gemeinsam den schweren Koffer auf das Trottoir. “Was ist da bloß drin”, fragt er wieder. “Na, Geld”, ruf ich lachend. Wir verabschieden uns, und er schaut mir lange nach. Für diese zehn Sekunden, und in den Augen dieses sympathischen Menschen bin ich endlich einmal ein gerissener Hund, jemand, der eigenhändig und Woche für Woche seinen Profit aus dem Osten im Koffer nach Frankfurt am Main schafft. Und die Welt wird ganz einfach.
Ich bin ihm dankbar. Ich finde, er müßte mir auch dankbar sein.

 

Alle Texte: © Maurenbrecher – Manuskript 1996