In der vertrauten Fremde

IN DER VERTRAUTEN FREMDE
DREI ANEKDOTEN UND EINE GESCHICHTE

1.
An einem Sommerabend im vorletzten Jahr fuhren meine Frau und ich von Posznan in Polen mit dem Zug nach Berlin zurück. Posznan ist von unserer Heimatstadt so weit entfernt wie Braunschweig – und doch so anders und fremd für uns wie Nizza oder Istanbul. Angeregt durch viele neue Erlebnisse bestiegen wir den Intercity Moskau Paris, und fanden unsere reservierten Plätze belegt. In dem vorgesehenen Abteil saßen sechs übermüdete junge Männer, die aber freundlich für uns zusammenrückten. Während wir das Gepäck verstauten, sah ich aus den Augenwinkeln ein dickes Bündel Geld zwischen zweien der Mitreisenden wechseln. Der die Scheine empfangen hatte, sprach mich kurz darauf in fast akzentfreiem Deutsch an: Man säße schon seit Moskau zusammen, seit achtzehn Stunden, habe gespielt – und er, der offensichtliche Gewinner beim Pokern, sei ein in Westberlin aufgewachsener Türke, nun auf dem Heimweg von einer langen Reise ins Baltikum, seine Zufallsgefährten aber seien Russen.

Wir hatten diese Auskünfte nicht verlangt, aber freuten uns über den Kontakt, stellten Fragen, boten Obst an, tranken aus einem Plastikbecherchen vom offerierten Wodka – erschöpftes neugierig-freundliches Schweigen der jungen Russen, während der Türke uns unterhielt. Nur einer der Fünf, augenscheinlich der Betrunkenste, wollte sich manchmal lallend an uns wenden, er hatte wohl aufgeschnappt, daß wir Berliner waren und dorthin zurückfuhren, soviel verstanden wir. Aber immer, wenn er sich aufrichtete und etwas herüberrief, drückte ihn sein Nebenmann brutal in den Sitz zurück, mit entschuldigender Geste zu uns, in die die anderen einfielen – dieser da sei betrunken, nicht ernst zu nehmen. Es wurde dunkel, ratternd und pfeifend durchraste der Zug das flache Land der ehemaligen Neumark auf Frankfurt/Oder zu. Irgendwann ergriff eine große Nervosität die Gruppe – Gepäckstücke wurden heruntergewuchtet, der Betrunkene geweckt, Kleidungsstücke wurden gewechselt – meine Frau mußte einen Moment in den Gang treten, denn einer der Russen, vorher in plumpen Jogginghosen, zog sich einen im Plastiksack sauber gehaltenen Anzug über. Dazu erzählte der Türke die rührende Geschichte, der Großvater dieses Mannes sei beim Eroberungsmarsch der sowjetischen Armee kurz vor Erreichen der Oder in den letzten Kriegswochen noch gefallen – und einmal im Jahr brächen diese Fünf zu einer Erinnerungsfahrt an das Großvaters Grab auf. Die Station, in die der Zug jetzt einlief, hieß Rzepin, die letzte vor Frankfurt/Oder. Es wurde hektisch im Abteil, auf russisch gab unser Türke ein paar knappe Anweisungen, man schleppte den Betrunkenen, der uns wieder etwas mitteilen wollte, auf den Gang, bildete ein Kette – und der Jüngste der Fünf, als er über meine Beine stieg, nickte mir mit einem mitleidheischenden, angstvollen Blick kurz zu und bekreuzigte sich dann. Die jungen Männer verschwanden im Dunkel des Bahnhofs.

Mit all unseren taktvollen oder auch groben Fragen konnten wir dem Türken, mit dem wir nun bis Berlin allein im Abteil saßen, nichts weiter über seine Reisebekanntschaft oder seine wahre Rolle bei dieser Fahrt entlocken. Wir hatten eine Vermutung, mit der wir uns aber zurückhielten: Man las manchmal in der ‘Märkischen Oderzeitung’, dem Regionalblatt an der deutsch-polnischen Grenze, von Aussagen Ansässiger, sie hörten nachts den Fluglärm kleiner russischer Militärmaschinen, die unbeleuchtet den Fluß überqueren – Flugzeuge, die es dort offiziell gar nicht mehr geben dürfte, aber die Ansässigen schworen, sie gehört zu haben, und sie kannten ja das Geräusch aus den langen Jahren sowjetischer Anwesenheit. Der Bundesgrenzschutz hatte die Möglichkeit illegaler Menschentransporte durch die Luft in der Nacht gleich verneint – und in den Hauptstadtzeitungen las man auch nichts davon. War unser freundlicher Türke ein Schlepper gewesen, das Spielgeld seine Entlohnung, seine knappen russischen Anweisungen die Wegbeschreibung zum getarnten Flughafen? Er jedenfalls erzählte uns jetzt glatt und ausführlich von seiner Familie, dem Kampf der Schwester um einen deutschen Geliebten, den Wunsch der Mutter, er möge doch endlich heiraten und vielleicht sogar eine Türkin – und daß der Zusammenhalt zwischen ihnen, den Eingewanderten, auch nach über dreißig Jahren so gut und stark sei, wie sie es nötig hätten.

Auf den Geschäftsstraßen in Berlin hab ich mich manchmal umgesehen nach den fünf vielleicht Eingeflogenen, die kein Wort deutsch sprachen und wie großgewachsene Kinder gewirkt hatten. Ohne Erfolg – aber sie sind unter uns, ich spüre es. Was werden sie tun, womit beschäftigt man sie, wozu stiftet man sie an? Und wer organisiert das eigentlich?

2.

“Anne” – ein gellender Kinderschrei geht von unten an der Hinterhofmauer hoch, zweimal, dreimal, dann ein polternd geöffnetes Fenster ganz oben, eine wütende Männerstimme, die etwas befiehlt, von unten ein schwacher Protest, dann ein scheppernd aufschlagender Gegenstand von oben gegen die Hofsteine. Hildegard knallt das Fenster zu, obwohl es stickig ist in ihrem Zimmer. “Ich halts langsam nicht mehr aus”, ruft sie, “es wird täglich beschissener!”

Hildegard wohnt als alleinerziehende Mutter in Kreuzberg, einer Gegend, die ich gut kenne. Sie auch, wir haben jahrelang im gleichen Haus gelebt, ich habe die Zeit fast idyllisch im Gedächtnis. “Ja, das war damals auch idyllisch”, sagt Hildegard, “aber jetzt bin ich die einzige Deutsche hier, weißt du…” Sie merkt, daß ich ihr so nicht folgen will. “Es ist das feeling, die Streitereien, das Gepolter im Treppenhaus, dieses ständige Rumgerase der jungen Typen in ihren tiefgelegten BMWs, dieses Macho-Gehabe… Es gibt keine deutschen Läden hier mehr, weißt du. Ich krieg manchmal noch nichtmal ne deutsche Zeitung…” Als Hildegards Sohn in die Schule kam, waren er und vier andere die einzigen Heimatsprachler, und vom Rest hatten einige noch keinen deutschen Satz gesprochen. “Carlos geht da einfach nicht gerne hin. Ah, ich halts nicht mehr aus!” Draußen im Flur poltert jemand an die Wohnungstür gegenüber. “Dann dieser Bandenkrieg. Zwei der Familien hier hassen sich bis aufs Blut. Die kippen sich ihre Mülleimer auf die Schwellen. Und ich steig dann drüber weg…”

“Verslumung?”, frage ich altklug und erinnere mich, wie Kreuzberg ganz früher war. Eh die billigen Gründerzeithäuser Ende der Sechziger von sog. Gastarbeitern bezogen wurden, war der Bezirk nämlich ein miefiges Pflaster, von kinderfeindlichen Hauswarten regiert, mit zugigen Trinkbuden durchsetzt, bei Kälte vom Kohlenstaub der Öfen erstickt, im Sommer mit leergefegten Straßenzügen und Rasenflächen, die nur die Hunde betraten. Meine Liebe zum Mittelmeer wurde u.a. deshalb wach, weil mich die ausländischen Mitbewohner so begeisterten, wenn sie an den heißen Julitagen Stühle und Tische vors Haus schleppten, zu grillen anfingen, ihre Kinder bis Mitternacht rumtoben ließen. Auch deshalb, wegen des mediterranen Flairs, ist Kreuzberg ein Studentenviertel geworden und später der Sammelpunkt vieler ‘Alternativer’. Es gab lange Zeit in meinem Bekanntenkreis niemand, der sich nicht wohlwollend, interessiert, sozial engagiert mit den Zugezogenen, die uns nicht gar so fremd blieben, auseinandersetzte. Es galt auch lange Zeit die Regel, daß in jede Westberliner Schulklasse nur eine bestimmte Anzahl von Ausländerkindern kam – deutsch lernen, sprechen war Pflicht. Dann weigerten sich die begüterten Bürgerbezirke, mehr Ausländerkinder in ihre Schulen zu lassen, dann wurden Ausbildungsplätze für Jugendliche überhaupt rar, dann fiel die Mauer, was besonders die jungen Türken am wenigsten begeisterte…

“Das weiß ich doch alles”, unterbricht Hildegard, “ich weiß auch, daß sich von diesen Bengels, die sich hier groß aufspielen, keiner in den Ostteil der Stadt trauen würde. Nach Lichtenberg oder Marzahn. Aber ich geh vielleicht bald da hin”, sagt sie mit leuchtenden Augen und macht das Fenster vorsichtig wieder auf. “In Mitte hab ich mir eine Wohnung angesehn – klasse. Nette alte Nachbarn, so DDRler wie früher, und auf der Grundschule war ich auch schon. Carlos würde sich da bestimmt wohlfühlen – auchn bißchen wie früher, freundlich und streng…” Wir zucken zusammen. Den Hof erfüllt ein langanhaltendes Donnern, und dann Geschepper. “Jetzt haben die ihren alten Fernseher rausge-pfeffert”, sagt Hildegard fassungslos und schließt das Fenster zum zweiten Mal. So wie für immer.

3.

Diskussionsrunde in einem rennomierten Potsdamer Kabaretthaus, am Ende des Jahres 92. Thema: ‘Ausländer integrieren – aber wie?’ Ich bin zusammen mit einem bekannten ostdeutschen Liedermacher geladen, die Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg auch, das Auditorium ist gut gefüllt – meine erste Einschätzung vom Publikum: Linksliberal, bürgerrechtlich bewegt, keine Masse, die ‘Deutschland den Deutschen’ skandieren würde – immerhin ein Slogan, mit dem der Kanzler die ersten gemeinsamen Wahlen gewonnen hat.

Zunächst wird die Asylpolitik verhandelt. Dann das fehlende Ausländerwahlrecht. Ich rede ein bißchen von den vertanen Chancen in Westberlin, aber aus gutem Grund stell ich das Ganze doch positiv dar – Kreuzberg als drittgrößte türkische Stadt, die vielen wirtschaftlich erfolgreichen, gut eingepaßten Familien, das nachbarschaftliche Miteinander… Natürlich gibt es auch versprengte multikulturelle Fanatiker auf dieser Versammlung, die in jeder Kritik an einem Ausländer ein faschistisches Vorurteil vermuten. Da erzähle ich dann die Geschichte von jenen drei Skinheads, Sechzehnjährigen – der Sohn von Freunden darunter -, die sich von Leipzig aus aufgemacht haben, uns in Berlin zu besuchen, und die gleich nach dem Aussteigen aus der U-Bahn allein wegen ihrer Aufmachung von einer türkischen Gang zusammengeschlagen wurden. Ich bekomme Beifall – so war es nicht gemeint. Die Ausländerbeauftragte will vermitteln. Man schneidet ihr das Wort ab. “So kann es nicht weitergehen”, ruft jemand im Publikum, einer mit langem Bart – ich vermute einen gestandenen Humanisten und DDR-Dissidenten in ihm, einen Christen vielleicht -, “Ja”, ruft eine andere, “da muß endlich was geschehen…” Allmählich begreife ich: Sie meinen den Zustrom von Ausländern in ihr Land. Sie meinen nicht Fremdenfeindlichkeit oder scheinheilige Asylpolitik – sie meinen ihre Ungestörtheit. Den Vogel schießt mein singender Kollege aus Sachsen ab, der einmal im Betrieb mit vietnamesischen Leiharbeitern (‘Genossen’ hieß es zu DDR-Zeiten immerhin) gearbeitet hat und jetzt meint, diese Spezies sei eben wesenhaft anders als er und wir Deutschen – die verzehrten gern Hunde, wir aber hätten Hunde zum Bewachen und auch als Freunde gern.

Später am Abend sitz ich mit diesem Kollegen aus Sachsen in meinem Lieblingscafé. Die japanische Bedienung bringt Wein, ihr kurdischer Chef richtet den Salat an, eine russische Straßenmusikgruppe spielt, ein paar italienische Mädchen flirten mit ihren Jungs, dazwischen natürlich die fleißigen deutschen Studentenpärchen. Neben uns fließt der Kanal, wir haben Glück, es gibt keine Schlägerei, und niemand flippt aus vor Einsamkeit und beißt sich die Lippen an einem Glas blutig. “Na, gefällts dir hier”, frag ich den Sänger. Er nickt. “Da geht einem ja fast das Herz über”, sagt er leise.

4.

Dies letzte Erlebnis ist fünf Jahre her. Inzwischen wird fast täglich in Brandenburg ein fremdländisch wirkender Mensch zusammengeschlagen, und die Sozialministerin dort kann frech behaupten, nur 0,1% der Asylsteller würden nachher auch anerkannt. Wenn man sie korrigiert, sagt sie salopp, dann habe sie sich eben im Komma geirrt.
Aber ich glaube, diese fehlerhafte, Fremdenhaß schürende Politik ist nicht das Entscheidende. Man muß ein Miteinander erleben – man muß es spüren, genießen können, muß auch seine Vorteile davon haben. Sonst kapselt man sich ein. Wer gut zu tun hat, der neidet dem Nachbarn nicht seinen kleinen Erfolg – egal, wo der herkommt. Deshalb hab ich diese drei Anekdoten erzählt. Und deshalb möcht ich am Schluß meiner Geschichten auch jemand zu Wort kommen lassen, der in einer grauen Vorortsiedlung wohnt, am Rand der EU, an der Grenze zum Chaos – wie es viele dort empfinden. Die sich daran gewöhnt haben, nicht mehr gebraucht zu sein…

Ich gebe zu, ich habe mir die Rede dieses Menschen vor einem Untersuchungsrichter nur ausgedacht; aber doch deshalb, weil ich mir einbilde, ein bißchen von ihm zu verstehen.

“Ich weiß nicht, warum ich hier vorgeladen bin, ehrlich. Ja, an dem fraglichen Abend habe ich einen Spaziergang gemacht, an dieser Disko vorbei, allerdings. Gern geh ich nicht da lang, aber ich wollte zum Briefkasten, und der Hund zog mich rüber. Da gibt‘s alle Nasen lang Randale, ist ganz normal. Ich? Na, ich halt mich raus, ich finde: sein Risiko schätzt jeder selbst ein, und jemand, der so in die Jahre gekommen ist wie ich…
Ja, eine Schlägerei, nicht von Pappe – und der Flüchtige, der kam dann direkt auf mich zu. Der hat mich ja beinah umgerannt – und ich kann so Gewalt nicht vertragen.
Sechs, sieben vielleicht, die waren hinter dem her. Na, Glatzen haben doch neuerdings alle. So richtig, wie man das aus dem Fernsehen kennt, mit diesen Stiefeln und so ‘nem Runenzeichen, sah aber nur einer von denen aus – und der hat nachher erzählt, er wär Journalist und eigentlich bloß für den Hintergrund mit dabei oder so – kam mir irgendwie sogar bekannt vor. Ein Kumpel von dem hat das Ganze gefilmt, das müßten Sie doch gesehen haben – der war aber völlig harmlos: aufgedunsen, schlabbrige Hosen und Pulli…
Na, ich bin stehengeblieben, was sonst? Könnte ja sein, daß da Hilfe gebraucht wird!
Der Flüchtige? Schon gut möglich, daß der nicht von hier war, schwarz und kräftig – ‘n junger Kerl, kann der ja selber auch nichts dafür. Ja, mit dem Kopf auf den Boden, furchtbar, und laut war das und knackig. Ich hab nicht hingesehen – wissen Sie, wo so Blut und Gewalt läuft, da schalt ich auch in der Kiste sofort wieder weg.
Polizisten? Nach ’ner Weile schon, logisch. “Na, mit Eurem Job möcht ich wirklich nicht tauschen”, hab ich denen noch rübergerufen. Und die haben den Journalisten nach seiner Filmerlaubnis gefragt. Und später, als der Krankenwagen da war, haben wir uns alle noch‘n bißchen über die Zeiten ausgetauscht – daß heutzutage niemand noch jemandem übern Weg traut, schlimm ist das.

Was hätt ich? Den rechten Arm “in dieser bestimmten Grußstellung gehalten”? Also, ich bitte Sie, das hat mir sogar meine Ärztin bescheinigt: Das ist eine Art von Freizeitschaden bei mir, kommt von den vielen Programmen, dem ganzen Umschalten mit der Fernbedienung – genau, weil ich ja bei Gewaltszenen immer gleich zapplig werde und mich dann wegzappe – da wird einem ganz leicht der Arm steif, probieren Sie das mal selbst!
Irgendwelche verbotenen Parolen hat keiner von uns im Munde geführt, das kann ich beschwören. Nur “Deutsche Arbeit den Deutschen” -, wenn Sie das meinen, das wurde schon laut. Na und? Sagt doch sogar die Frau Hildebrandt.
Man kennt sich eben nicht mehr aus. Ich hab zum Beispiel geglaubt, diese Jungs wären Itaker gewesen, so wie die geheißen haben: Mario, Silvio, Rodriguez – ein Mädel haben sie Saskia gerufen, das ist doch kein Name von hier? Dann hat die Polizei die Personalien aufgenommen. “Ja, und jetzt?”, hab ich noch gefragt. Und der eine Beamte hat mir die Frage direkt zurückgegeben: “Ja, und jetzt?”, sagt er, und dann hab ich dem Hund gepfiffen. War nicht so leicht, den da wegzukriegen, die sind rumgetollt mit dem, diese Kinder, das war schon Klasse…

Na ja, so gehts: Ohne das Vieh wär ich andererseits überhaupt nicht da reingeraten, in den ganzen Schlamassel…”

 

© Manfred Maurenbrecher 1998