Lutz Bertram, Anerkennung, Widerstand

ÜBERLEGUNGEN ZU LUTZ BERTRAM, DER ANERKENNUNG UND DEM WIDERSTAND

Viel ist in den vergangenen Wochen über den Stasi-Mann Lutz Bertram gesagt und geschrieben worden, die Gespräche setzen sich in den Bar- und Cafenächten fort. Ein Puzzlesteinchen vom Tollhaus mehr, dachte ich, als ich die Schlagzeile vorvergangenen Samstag in der Märkischen Oderzeitung zu lesen bekam, wo sie, wie ich fand, auch hingehörte. Was haben sie nur wieder ausgebrütet, dachte ich.

Als Alt-Westberliner, einiges von der Paranoia gegen ‘linken’ Terror noch manchmal im Halbschlaf vor mir, kann ich das Grauen über den vergangenen Überwachungsstaat nebenan noch immer nicht in allen Verästelungen begreifen, und in schlechten Stunden setzt der Reflex bei mir ein: Na und – Everybody must get stoned -, und wenn am Ende jeder dabei war, dann hatten sie drüben eben eine vollausgebildete Demoskopie, die bekanntlich zu gar nichts nutzt.

Zwei sehr private Beispiele, warum ich an die Verschiedenheit der beiden deutschen Systeme, aber wenig an die qualitative Überlegenheit des gebliebenen, offenen Umgang miteinander und freie Information betreffend, glauben mag:
Es gab Zensur in der DDR. Aber ich werde nicht vergessen, wie mich Lea Rosh einmal in einer ihrer Talkshows (jener ‘Quatsch-nicht-sag-was-ich-denke – Sendungen’) eiskalt zensiert hat, und ich habe mich nicht gewehrt, weil eine Platte zu promoten war. (Die Sendung hatte mit Drogen zu tun, und nicht mit Zensur in der Ex-DDR…)
Es gab Mediengleichschaltung dort drüben. Aber drei Stunden Auto fahrend tippe ich mein Radio von Nachrichtensender zu Newspoint und immer weiter durch alle Kanäle durch, und kann am Ende die Befehlsleier, was auf der weiten Welt wichtig sei, schon ganz von selber mit aufsagen. (Es war an jenem Tag einmal keine Meldung eines Ex-Dissidenten mit dabei, deren tagespolitiknahe Stasi-Enthüllungen im Kanon des Wichtigzunehmenden immer enthalten sind; Lutz Rathenow: “Mit Lyrik käme ich nicht in die Tagesschau…”)

Weil mich Zensur und Gleichschaltung ärgern, mag ich übrigens Lutz Bertram. Seit ich Frühaufsteher sein muß, bin ich sein Fan geworden. Der Mann stellt Fragen, tilgt Phrasen, und statt dem Gesprächspartner aufzudrängen, was der zu denken habe, nahm er bisweilen die Rolle eines Gegners an im Gespräch – vor allem: er spricht eine wirkliche Sprache. Schon allein deshalb gab es in seinem Morgenmagazin kaum ein Abgleiten in den Sumpf der Klischees, seine Sätze sind den Gedanken entsprechende Konstruktionen.

Eine Stunde mit dem Frühstücksdirektor auf ORB immunisierte mich gegen zehn Werbeblöcke, die sich Der Alltag nennen; er bot Geisttraining morgens – und abends, um es zu vervollkommnen, nehme man dann Fontane, nicht Kuttner!

Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen, die ihm jetzt Ade schreiben, glaube ich nicht, daß Bertram ersetzbar ist.

Die Stasi aber, unvergleichlich mit allem, was wir im Westen aufzubieten haben, war eine absurde Gemeinschaft. Im DDR-System, das habe ich verstanden, markierte sie die Grenze zwischen den rechtsstaatlichen Rudimenten und purer Willkür – eine Trennlinie, vor der man sich wohl in vielen Fällen mit Ja oder Nein entscheiden konnte; man konnte auch Nein sagen. Aber absurd und planlos in ihren Wirkungen dann auch, die Staatssicherheit: Es kam ja vor, daß eine engagierte Frau von zwei Anwälten und einem Ehemann in drei Richtungen beraten wurde, und alle drei Männer gehörten je einer Stasi-Abteilung an (bzw. man vermutet es).
Wegen diesem Gespenstischen, wegen des paramilitärischen Anstrichs auch, ist die Organisation jetzt vielleicht so geeignet, als Scheidewasser für die Karrieren und die persönliche Integrität der dem Westen des Landes zugewachsenen Eliten herzuhalten. (Übrigens nur bestimmter; in Wirtschaftskreisen wird pragmatischer geheuert und gefeuert…)
Stasi: das ist der Intellektuelle in Uniform, als Diener der Willkür, vergleichbar Gottfried Benn 1933 (und vielleicht Botho Strauß in den kommenden Jahren ?…)
Stasi=Schuld, da ist Einigkeit (ceterum censeo…) – ich kann dem Gedanken folgen.

Also Stasi-Mann Lutz Bertram: will er in diese Wunde den Finger tun, sich selbst als Show-Effekt im Streit nutzend?

Ich hatte mir den blind gewordenen Moderator fester vorgestellt, als er am vorvergangenen Samstagabend mit zwei Herren zum klärenden Gespräch saß, hätte ihn mir kälter gewünscht. Typisch für mich und den Wunsch, mir diesen exzellenten Journalisten für meinen Tageslauf zu erhalten, war die Vorstellung, Bertram würde ein weiteres Frage-und-Antwort – Spiel veranstalten, wie bei ihm üblich und eher am inneren Gefüge eines Sachverhalts interessiert als an den Wertungen.
Er war aber aufgewühlt, und als er anfangs von seiner Ohnmacht gegen die Behördenwillkür angesichts hereinbrechender Blindheit erzählte, von seiner Bestechlichkeit also, von der ‘Lücke im Immunsystem’ damals, als junger desorientierter Spund im Überwachungsstaat, da bekam er eine mir fremde, fast süßliche, um Verständnis und Vergebung ringende Stimme – eine frühere Stimme, wie ich jetzt glaube.
Warum dieser Mann denn nun genau IM geworden ist, hat er den befragenden Herren und mir nicht erklären können – auf der Ebene privater Motive, ‘der Inszenierung’ (wie es jetzt in der Presse heißt), gelingt das wohl keinem der sog. Täter von damals. Dieser Part brachte Traurigkeit – ein Elend eben, wenn Privatestes und die Sphäre der Macht sich so ganz direkt mischen, weil Not verfügbar macht und die Macht darauf lauert.

Das mag man – angesichts der Konsequenzen – als zu privat abtun. Aber in jedem Leistungssystem ist dies Elend, die Stelle privater Tragik, exakt der Punkt der Persönlichkeitsbildung – hier entscheidet sich, wer sich unverwechselbar machen kann, wer zur Elite gehören wird, wer ‘seinen Weg’ findet. Ganz immun sein zu wollen gegen die umgebende Gesellschaft heißt auch, ganz verhüllt und in sich versunken in ihr hocken zu bleiben.
Bertrams ‘frühe’ Stimme hat in der Sendung am Samstagabend vorgeführt, was aus ihm hätte werden können: ein selbstmitleidiger, Rührung provozierender Kranker. Durch die Wichtigkeit, die das System ihm (qua Stasi) verlieh, muß eine Art von Selbstfindung passiert sein – das war zwischen den Sätzen sehr deutlich -, eine Stärkung der Beobachtungsgabe und des Intellekts, der inneren Kräfte – durch Korruption, durch die Aufspaltung in Zwei, wie der Mann selber sagte. Ich kann nicht behaupten, der Vorgang wäre mir unbekannt. Die vertraute, selbstgewisse und hysterisch klare Stimme, zu der Bertram gegen Ende des Gesprächs dann zurückfand, sah ich als das Ergebnis einer Art von Schulung vor mir – da hat also einer, weil er sich mies machen mußte, erst zu sich selbst gefunden und damit zu einer Arbeit, die unverwechselbar ist, weil nur er sie so kann.

(Bertrams Arbeit: u.a. mit Mächtigen plaudern, sie sich dabei verraten lassen, sie ins Leere, in ihre eigene Struktur rennen lassen – wer das leistet, dem muß die Umgebung vertraut sein…)

Ist Bertrams Geschichte dann nicht ein wunderbarer Vorgang, Ziel jeder (leistungsorientierten) Persönlichkeitsbildung, von jeder auf Eliten zählenden Gesellschaft so gewollt, hier gekrönt noch durch den Fakt, daß das System, dem er diente, verschwunden ist und ihn also freiließ zu weiterer Vervollkommung: Er konnte die Uniform ausziehen und seine Schulung zu öffentlichen Lektionen im Machtgebrauch nutzen?
Warum also nutzen wir diese Begabung nicht?

Ob er irgendjemand geschadet habe, treibe ihn um, sagte der ‘frühe’ Lutz Bertram in dem Gespräch mit den Herren. Die Menschen, an denen er als Spitzel schuldig wurde, sind nicht verschwunden. Es gilt nur ein neues System. Ist es menschlicher? Welcher westlich aufgewachsene Karrierist, als unsicherer, wispernder junger Spund von einem Interessenverband, einer Lobby gefördert, an seinem wunden Punkt gepackt und auf Ziele angesetzt, die der Geheimhaltung unterliegen, ‘um sich die Hörner abzustoßen’, muß sich je fragen, was er auf seinem Weg nach oben (nach dem Verständnis der Eliten also: zu sich selbst) angerichtet hat? Deutlicher: Wer hätte jemals wohl niemand geschadet auf seinem Weg in die Anerkennung, in die berufliche Meisterschaft, die – wie wir wissen – selten von Integrität geprägt ist, aber immer von Können, Waghalsigkeit, Eitelkeiten, Risikosucht, also von Genie?

Ob eine Hinneigung zur Stasi, die zu brillantem Journalismus geführt hat, dabei ‘verwerflicher’ ist als eine Hinneigung zur verwertbaren Tagesmeldung, die aus Ex-Dichtern, Ex-Filmern, Ex-Maler(innen) eine Art von Moral-Meldegängern gemacht hat, möchte und muß ich nicht entscheiden.
Ich gestatte mir, hier nur auf Wirkung zu achten.

Und dann gilt – pathetisch gesagt -: wenn der Staatsozialismus der DDR eine Spielart von Orwells ‘1984’ – Utopie war, dann sind wir, auf unserem Boden, längst in einer Spielart der ‘Brave New World’ von Huxley – und auf dieser Basis entscheidet sich, wer zur eigenen Sprache (sprich dem eigenen Gedanken) fähig geblieben sein wird. Man kann auch hier Ja sagen, Nein sagen, oder sich JAJA-NEINNEIN der bedingungslosen Verfeinerung seiner Fähigkeiten hingeben.

Wer aber bei uns ganz naiv ‘Mensch’ ist, der brüllt ein “Ich habe gewechselt” in ein bereitgehaltenes Privatrundfunks – Mikro, streicht im Vorbeigehen eintausend Mark ein und macht sich dann schnell wieder aus dem Staub…

© Manfred Maurenbrecher, 1/95