Der Taucher

DER TAUCHER

Eine Episode aus der ‘Niederschrift des Gustav Anias Horn’ von Hans Henny Jahnn, für zwei Sprecher gesetzt und nacherzählt für die ‘Ohrenweide’ von Manfred Maurenbrecher

B:
Daß Menschen zu Statuen werden in ihrer vollsten Blüte, daß die Liebenden versteinern im schönsten Augenblick – das ist in vielen Märchen und Sagen erzählt worden. Auch, daß abseitige Zauberer – heute nennt man sie Wissenschaftler – mit den Betäubten oder Toten ihre Spiele und Versuche treiben, wurde schon immer berichtet. Kaum einer hat sich in unserm Jahrhundert mit diesem Thema so viel beschäftigt wie der Hamburger Hans Henny Jahnn. Die folgende – Liebesgeschichte stammt von ihm, sie ist ziemlich abseitig. Wie sein ganzer Roman ‘Fluß ohne Ufer’, dem sie entnommen ist – ein Kitzel für zarte Nerven…

A:
Ein Mann reist durch Afrika. Auf der Überfahrt dorthin hat er seine Verlobte verloren. Dann hat es ein Schiffsunglück gegeben, und der Mann hat sich mit einem Matrosen des gesunkenen Schiffes zusammengetan. Der Matrose hat ihm gestanden, er sei der Mörder der Verlobten, noch auf dem Schiff habe er sie angefallen, mit Teer übergossen und dann irgendwo im Bug versteckt. Kurz darauf ging das Schiff unter. In dem Augenblick, wo der Matrose dem Mann diesen Mord gestanden hat, fängt der an, ihn zu lieben. Sie reisen von nun an gemeinsam – Alfred Tutein, der arme Matrose, und Gustav Anias Horn, der wohlhabende ehemals Verlobte aus Hamburg, nicht viel älter als ein Abiturient. Wenn ihre Reise durch Afrika zuende sein wird, ist Gustav Anias Horn ein vielversprechender Komponist geworden. Er wird mit Alfred Tutein auf einer kleinen Insel in der Ostsee zusammenleben, bis Tutein stirbt, und er wird den Mörder seiner Verlobten einbalsamiert in einer Eichenholzkiste bei sich behalten, bis er selber ermordet werden wird – von einem anderen jungen Mann, der in vielem dem Matrosen Tutein gleicht. Vorher wird er noch seine Erinnerungen aufschreiben, ‘Die Niederschrift des Gustav Anias Horn, nachdem er 49 Jahre alt geworden war’. Durch diese Niederschrift wissen wir von all den Merkwürdigkeiten, den kruden Phantasien und Horrorerlebnissen des seltsamen Horn, der ein Leben lang auf der Suche nach unverwechselbarer Liebe war und dauernd auf ihre Zerstörung, Wunden und Tod traf.

B:
Während Horn durch Afrika reist, liegt das meiste davon noch vor ihm – so, wie der größte Teil der Geschichte noch vor Hans Henny Jahnn liegt, der in den Vierziger Jahren auf der Ostseeinsel Bornholm wohnte und dort diese ‘Niederschrift’ entwickelt hat – nach dem Tod seines Lebensfreundes, aus Träumen, Ideen und Einzelheiten heraus, die er zunächst gar nicht ordnen mochte. Er läßt seine Geschichte so auf sich zukommen, wie sie auf Gustav Anias Horn zukommt.

A:
Der sitzt gerade in einer afrikanischen Küstenstadt an einem Kai und beobachtet junge Taucher, die nackt ins Wasser springen, um Groschen herauszufischen, die die Touristen ins Hafenbecken geworfen haben. Zu einem der Taucher fühlt er sich hingezogen. Wochenlang sieht er ihm zu, gewöhnt ihn an sich, füttert ihn mit Wein und Fleisch, und erspart ihm so die Demütigung seines Broterwerbs. Für Horn ist das ein harmloses Vergnügen. Er berührt seinen Taucher kaum, sie sprechen nicht miteinander. Horn treibt in seinen Gefühlen, wie sein Taucher sich im Hafenbecken treiben läßt.

A:
“An den Abenden, wenn ich allein war, fragte ich mich, was meine leere Kameradschaft bezwecken solle (…). Es gab nichts zu ergründen, nichts zu enthüllen. Ich betrachtete ein schönes Tier, tagein, tagaus. Ich war nicht auf der Suche nach wohlfeilen Gelegenheiten. (…) Wir fraßen Pasteten, wir tranken Wein. Und meine Gedanken verloren sich, wie die Gedanken sich an großen Schmerzen verlieren. (…) Das Geschehen mußte zu mir kommen; ich kam ihm nicht entgegen.”

B:
Horn will nichts Böses, aber er richtet doch etwas an – ganz passiv, voll von Bewunderung für sein schönes ‘Menschentier’. Er umgibt einen jungen Mann, der sich durchschlagen mußte, mit Wohlleben. Er setzt die Instinkte außer Kraft. Er macht den anderen lieb und lahm.
Als sein Taucher wieder einmal nach langer Untätigkeit gewagte Kunststücke um ein abfahrendes Schiff herum versucht, ahnt Horn sofort das kommende Unheil…

A:
“…(er) warf sich rücklings über Bord, er spielte den Delphin. Er tauchte auf, prustete, verschwand wieder unter dem flachen Kiel. (…) Mir begann das Herz gewaltig zu pochen. Nach wenigen Minuten verlor ich alle Hoffnung. Ein schwarzer Filter legte sich mir über die Augen. Ich sagte mir, ich dürfe nicht ohnmächtig werden.”

B:
Und was Horn geahnt hat, ist schon geschehen: Sein Taucher, von der Schiffsschraube erfaßt, treibt plötzlich tot im Wasser. Ab sofort entwickelt Horn eine zielgerichtete Betriebsamkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Er organisiert sich ein Boot, holt den Toten an Land, besticht einen Polizisten und einen Fuhrmann und ordnet an, den Leichnam mit ihm zusammen ins Krankenhaus zu bringen.

A:
“‘Nicht ins englische Krankenhaus’, (erklärte ich noch).”

B:
Bloß nicht dorthin, wo die normale Ordnung gepflegt wird. Horn hat nämlich etwas gesehen, das ihn in helle Aufregung versetzt.

A:
“Man sah die fürchterliche Verstümmelung. (Ein paar Passanten) sprachen das Gräßliche aus, daß der Tote aufgehört habe, ein Mann zu sein. (…) Dieser Tod war meine Sache. Darum stand ich da, beschämt, traurig, mir ganz entfremdet, ein Feind aller Menschen.”

B:
Jetzt beginnt die Fahrt: Der Karren mit der Leiche darauf und Gustav Anias Horn, der nebenher schreitet, kommen irgendwann vor einem abgelegenen Hospital weit außerhalb der Stadt zum Stehen. Der Fuhrmann verschwindet gleich wieder. Horn empfangen ein paar hartgesichtige Ordensschwestern, die ihm den Leichnam wegnehmen. Er protestiert. Er will den Chef sprechen, den Leiter des Krankenhauses, den ‘Alten’, wie er ihn hat nennen hören. Der steht auch plötzlich, ein Mann mit wucherndem roten Bart, neben ihm.

A:
“(Ich sah): er war hoch, fleischig, von großen Körperkräften; er hätte mich mit seinen unbewaffneten Händen erschlagen können. (…) In meiner Ratlosigkeit suchte ich die grünen Augen, die jetzt, ich sah es zum ersten Mal, hoch über mir wie geschliffene Steine glänzten. Sie leuchteten in unheimlicher Wißbegier und auch schadenfroh (…).”

B:
“‘Was haben Sie mit dem Kadaver zu tun?'”

A:
“‘Sind Sie der Herr Professor?'”

B:
“‘Jedenfalls trage ich die Uniform des Arztes, wie Sie sehen (…).'”

A:
“Er fuhr mit dem Daumen seiner rechten Hand in ein Knopfloch, um das Auge des Knopfes vorzustoßen (…). Der Knopf sprang durch die Luft und fiel zu Boden.”

B:
“‘Unordnung'”…

A:
… “sagte er”…

B:
… “‘alles vergeht. (…) Was wollen Sie von mir? Was geht Sie der Tod
dieses schwarzen Tieres an? Was haben Sie damit zu schaffen?'”

A:
“;Es ist meine Sache’, sagte ich, ‘ich möchte ihn sehen. Ich habe bis jetzt nicht den Mut gehabt, genau und fest hinzuschauen.'”
Er erhob sich, trat zu mir, packte mich, stieß (eine) Tür auf…

B:
“‘Hier ist er. Die beste Beleuchtung, die man sich wünschen kann. Sofern Sie durchschnittliche Sehkraft haben, wird Ihnen nichts entgehen.'”

A:
“Er stieß mich zu dem Toten”…

B:
Und der junge Müßiggänger aus Europa, Gustav Anias Horn, schaut nun zum ersten Mal in die Wunde seines Zufallsbekannten. Er gerät in einen Taumel, der mit dem Wort Lustangst nur blaß beschrieben ist.

A:
“Das Licht fuhr mit furchtbarer Unablässigkeit auf das menschliche Fleisch, das langsam seine Süßigkeit verlor, auf die gräßliche Wunde, die schon bitter war (…). Meine Angst war so ohne Grenze, daß nur das Zugreifen meiner Hände mich davor bewahrte, einen tierischen Schrei auszustoßen. Ich faßte in die Verstümmelung hinein, gleichsam, um eine Erscheinung zu bannen, die mich mit Vernichtung bedrohte. (…) Meine Finger hielten einen aus dem Bett der Muskeln herausgeschleu-derten Knochen.”

B:
“‘Ich löse ihn für Sie heraus, (…) ein Teil des Beckens, mehrfach gebrochen. Eine Erinnerung aus dem tiefsten Innern eines Menschen.'”

A:
“‘Nein’, sagte ich entschlossen.”

B:
“‘Doch – das wollen Sie.'” (…)

A:
“‘Ich will nicht, daß er zerstückelt wird’, sagte ich (…).”

B:
“‘Die Zerstückelung hat das Schicksal besorgt. Wir nehmen nur die losgebrochenen Scherben.'”

A:
Spätestens bei diesen Worten hat eine merkwürdige Art von Zuneigung Gustav Anias Horn ergriffen. Er vertraut jetzt dem Arzt, der eine Rede über über die Vergänglichkeit aller Schönheit beginnt, eine Anklage gegen das Prinzip der Natur, ständig verlockende Köder auszuwerfen, die ihre Fortpflanzung einfordern, aber dann schnell verfallen und nur das Prinzip selbst verlängern, den Einzelnen nie…

B:
Gustav Anias Horn liebt die Fortpflanzung nicht. Eigentlich zieht ihn die Zerstörung an, das hat er gerade erfahren. Daß er selbst ein wenig schuld ist am Tod seines Tauchers, ihn gewissermaßen entmannt hat, ist bald vergessen – der seltsame Arzt, der ‘Alte’ bestärkt ihn in seiner Neugier – menschliche Körper als ‘Material’. Aber was der unerfahrene, schnell erregbare Horn nur in der Ekstase schafft, das geht dem Profi in der Uniform des Wissenschaftlers leichter von der Hand. Und schon kommt eine andere, noch reizvollere Idee dieses Profis zur Sprache…

A:
“(Er sagte): ‘Was Sie an dem Toten suchen, ist schon dahin. Ich werde ihn gefrieren lassen. Ich werde ihn für Ihre Augen aufbewahren, bis der Ekel Sie heimsucht. Fleisch ist ein schlechtes Material, um Statuen daraus zu machen.’ Mir war nun, als hielte er mich in seiner Liebe.”

B:
Darauf hätte Gustav Anias Horn, das hamburger Bürgerkind, sich bes-ser nicht einlassen sollen. Aber dann hätte er auch weniger von sich erfahren. Der gewaltige Arzt führt den Weltenbummler in einen anderen Operationssaal, eine Art von Verließ…

A:
“Die Finsternis wölbte sich zu Spanten, zu einem Arsenal weißlicher Särge. Ich griff nach der Hand des Arztes(…)”

B:
“‘Gehen Sie noch zwei Schritte vorwärts(…), ich werde Licht machen.'”

A:
“‘Ich kann nicht’, sagte ich mit enger Kehle, ‘vor mir ist ein Eisblock.'”

B:
“‘Ganz recht. Diesen Eisblock möchte ich Ihnen zeigen.'”

A:
“Weißgelb vor mir, enthauptet und mit abgeschlagenen Armen, mit jungen Schenkeln, mit apfelgleich gewölbten Brüsten lag auf einer metallenen Pritsche das Bild aller schlafenden reglosen Menschenweiber. Ich sah noch, die Haut war bereift, einziges Zeichen des Todes. Und die Wunden; – doch die sah ich nur halb.”

B:
“‘Dies ist das schönste Menschenkind, das ich habe sterben sehen.'”

A:
“‘Wo ist der Kopf? Wo sind die Hände”, fragte ich in meiner Angst und Betäubung.”

B:
“‘Die hat man mit allen priesterlichen Segen vor vierzehn Tagen zu Grabe getragen. (…) Schauen Sie getrost auf den Körper. Noch können Sie die Fastvollkommenheit der Formen wahrnehmen.(…) Noch lügt das Eis ein kaum verloschenes Leben vor. Nur hie und da bereift sich die Haut, zerren und winden sich Zellen.(…) Vergessen Sie nicht, gefrorenes Wasser vergrößert das Volumen mit einem Zwölftel. – Jedoch, junger Freund, begatten können sie meine Tochter nicht mehr. Sie ist eine kalte, naturgetreue Statue (…), man kann sie schänden, aber nicht lieben.'”

A:
Gustav Anias Horn ist natürlich entsetzt, und natürlich macht er dem Arzt ein paar Vorhaltungen: Daß hier gegen humane Gesetze ver-stoßen werde…
Aber er ahnt schon, worauf das Ganze hinausläuft – vielleicht hat er sich solch ein Ende sogar ersehnt, als er seinen Taucher in das ab-gelegene Hospital bringen ließ. Er sagt zu sich selbst: “Dies wird niemals aufhören.(…) Unausdenkbar; aber (…) für mich gedacht…”
“(Der Alte) stand plötzlich groß und stolz, steinern und fleischig zugleich vor mir. Seine grünen Augen brannten wie Sterne.”

B:
“‘Das Weib ist für den Mann geschaffen, geben wir sie zusammen. Bestatten wir sie in einem Sarg.'”

A:
Ganz kurz erinnert Horn sich an seine Verlobte, ermordet und mit Teer bestrichen in dem untergegangenen Schiff… Und der ‘Alte’ äußert einen Gedanken, der die Geschichte zusammenfaßt:

B:
“‘Darum also hat man den Körper zerstückeln können, weil ihm etwas fehlte. (…) Wenn etwas zum Gewesenen werden kann, hat ihm zum Vollkommenen etwas gefehlt.'”

A:
“Unwillkürlich suchten meine Augen (…) die Tote, die (…) als verführe-rischer Rumpf dalag. Ich wurde schwach. Ich sagte ziemlich laut: ‘Ich bin überwunden. Man kann einen Sarg sparen.'”

B:
“‘Kommen Sie, wir wollen Ihren Bruder hierher tragen, damit die beiden sich kennenlernen.'”

A:
“‘Und beide steinern werden’, fügte ich hinzu.”

B:
“‘Sie sind nicht ohne Erfahrung im Bösen, aber es wird kein großer Sün-der aus Ihnen werden.'”

B:
Daß Menschen zu Statuen werden in ihrer schönsten Blüte, daß die Liebenden versteinern im besten Augenblick – kaum ein Schriftsteller in diesem Jahrhundert hat die alten Mythen mit den Folterpraktiken und den kühlen Operationen in High-Tech-Laboren so in Verbindung ge-bracht wie der Hamburger Hans Henny Jahnn.

A:
Und selten hat sich einer dabei selber so auf die Folter gespannt…

B:
‘Meine Figuren entwickeln sich ohne mein Zutun, ich streue eigentlich nur die Landschaftsbeschreibungen ein’ – so ungefähr hat Jahnn seine Arbeit beschrieben.

A:
“Ein starker würziger Duft stieg von den Feldern auf. Die Sonne stand niedrig. Der Dampf der Erde sehnte sich schon danach, als Tau in Tropfen zu gerinnen. Ich schritt hastig aus. Die furchtbare Ausschweifung meiner Seele hatte meine Erinnerung für kurze Zeit entblößt, dann ermattet und abgestumpft; in die Verließe der Hirnzellen (…) wieder versenkt. Ich dachte sozusagen nichts, keine Vorstellung plagte mich noch. Ich vergaß das Gespräch mit dem ‘Alten’…”

 

Zitiert aus: Das Hans Henny Jahnn – Lesebuch, hrsg. v. Uwe Schweikert, Hamburg 1984, S. 156-185.

© für diesen Text Manfred Maurenbrecher 1998