Die Künstlerkolonie Woodstock

DIE KÜNSTLERKOLONIE WOODSTOCK

Worpswede – wo Rainer-Maria Rilke mit Paula Modersohn-Becker über die leise Sprengkraft von Binnenreimen debattiert hat, oder über die Liebschaft zweier Frauen zu einem Mann, der sich sehnt, eine Frau zu sein…

Für Deutschland reicht sowas, ein Künstlerdorf nahe Bremen, mit Nackttänzern, Futuristen in rietüberdachten Katen, mit Wandervogelgitarren und ein paar Ausreißern unter achtzehn, die sechzig Jahre später dann Führungen für die touristische Nachwelt veranstalten.

Ja, wir hatten sie auch, immer wieder, die Künstler in ihren zivilisationsfluchenden Kolonien – Drop-Outs auf neuen Wegen.

Für die USA aber wäre Worpswede zu wenig. Also bitte, das ganze Land ist ein Schmelztiegel, Drop-Outs kamen von überall – schon das Wort ist ja amerikanisch, und ‘Neue Wege’ – steht sowas nicht schon in deren Verfassung?
Spießer? Das müssen Indianer gewesen sein…

Ich weiß nicht, welche Sorte Indianer am Hudson gehaust hat, knapp 100 km von New York City entfernt, aber ich nehme mal an, sie waren so bieder und alkoholfreundlich wie überall sonst in den Filmen und irgendwie einfach nur froh, wenn in Ruhe gelassen – was ja nun wirklich nicht geht, wo ‘neue Wege’ beschritten sein sollen…

Nein, die Indianer am Hudson hatten bestimmt keinen Schimmer von der Natur da, von ihrer Schönheit und Unberührtheit – sie lebten wahrscheinlich da einfach nur rum.

Sowas ähnliches dachte sich auch Ralph Radcliffe Whitehead, als er am Hudson entlangstreifte, um die Jahrhundertwende…

Solch eine Schönheit sehen und besiegen, das schaffen Leute mit einem Programm im Schädel, einem Schönheitsprogramm, Zurück-zur-Natur -…
So ein Programm haben Weiße, wer sonst?

Ralph Radcliffe Whitehead zum Beispiel, der Textilfabrikant aus Yorkshire, der sich 1902 durch die Wälder am Hudson tragen ließ.

Er starrte, staunte und dachte: “Toll. What a beauty. Hier muß man leben. Schluß mit dem Außenhandelsgenerve, dem Steuerärger, der ganzen Gewerkschaftsquälerei, und meine Ehe ist auch am Arsch.. Ende. Die Leutchen hier am Overlook Mountain, in diesem Woodstock, die sind so hinter der Welt, denen kann man ne Menge zumuten… Back to the Roots… Nackte Körper… Bißchen viel Juden hier, aber sonst…”

Und Ralph Radcliffe Withehead legte seinen weißen Kopf in Falten und schritt zur Tat. “Träger, markieren Sie mal die Stelle.”

Er gründete eine Lebenskolonie, mit selbstgebasteltem Ackergerät, Tänzerinnen zur Dämmerung, Gymnastik und Morgenappellen. Dreißig Gebäude entstanden, und die biederen Bürger von Woodstock lernten die Töpferei kennen und das Theaterspielen von wackligen hölzernen Gerüsten herunter, wo es mehr um die ‘Botschaft’ als um das Können geht.

So weit, so gut. Noch erinnert alles an Worpswede. Auch, daß natürlich ein Mr. Whitehead ein Diktator, sein Sohn ein Auflehner und sein erster Sekretär Hervey White ein Sozialarbeiter und mieser Intrigant sein mußte – alles vertraut. Kein Programm zur Verbesserung der Welt setzt sich durch, das sich nicht selbst verrät und ins Gegenteil ausufert.
Frag die Indianer und Trotzki.

Whitehead ist gegen die Juden.
Sein Sohn mag Leute mit Geld.
Sozius Hervey White ist durchaus für Subventionen.
Whitehead macht alles allein ( “blutet, Leute…” )

Kurz und gut, in den Zwanziger Jahren gibt es bereits drei konkurrierende Alternativprojekte in Woodstock, und jeder Schmied oder Tankwart kennt dort die Traktate des Rudolf Steiner so gut wie sein Merkblatt zur Umsatzsteuer.
Am besten verkauft es sich mit einer Kerze am Ladentisch, und wenn die halbwüchsige Tochter auf Eurythmie macht.

Alles vertraut von Worpswede, okay. Aber kam dort jemals ein Papst vorbei, oder wenigstens Stefan George (von Heinrich zu schweigen, und von Götz ja wohl ganz…)?
Nein – in den Prospekten steht: Rainer Maria Rilke, Paula Modersohn-Becker, Heinrich Vogeler, und das wär’s.

In Woodstock dagegen lebten zeitweilig:
Rabindranat Tagore, der indische Dichter und Guru, Thorstein Veblen – wer immer das war, und Thomas Mann, Deutschlands bestes Gewissensstück.

Tja, diese Amerikaner.
Schon in den Dreißigern kannte Woodstock: ein Theaterfestival, zwei Konzertreihen, jede Menge Selbsterfahrungs – und Eigenverwirklichungskurse, Volkstanzwettbewerbe und Nudistenmeetings, die sich besonders für den Tourismus anboten…

In den Vierzigern schaute Pete Seeger vorbei und schleppte Leadbelly mit, den Mörder und Sänger, und der wieder Odetta und jede Menge geile schwarze Bluesquetschen…

In den Fünfzigern zogen deren Manager nach und bauten Villen, wo vorher noch etwas Sand gewesen war zwischen den Bergen, Seen und programmatischen Plätzen…

Leibwächter und Sprechfunkanlagen…

… und in den Sechzigern kamen die neuesten Schützlinge der Manager noch dazu in den erquickenden Wald, mit rot geränderten Augen nach strapaziösen Exzessen – Frank Zappa, Van Morrison, Peter, Paul and Mary, Tim Hardin…

Daß es ein antijüdisches Vorurteil nun nicht mehr gab, beweist am besten, daß man zwei so offensichtliche Semiten wie Aaron Copland und Bob Dylan friedlich am Overlook Mountain nebeneinander wohnen ließ. Knete und Kunst besiegen alles…

Tja, Woodstock. Ein Ort wie Venedig, Kensington und Amsterdam zusammen. Übereinstimmend schwört jeder, der über Woodstock, wie es ‘vorher’ war, etwas sagen zu müssen glaubt, daß es da “magic” gab, Ruhe, so was wie einen Zauber…

Und das wird trotzdem noch wahr sein, vermute ich.

Aber Amerika wäre kaum, was es wurde, wenn es solche Tricks nicht durchschaute. Rückzug? Ein Künstlernest – wo sie wirklich ganz ungestört ihr selbstgebackenes Brot knabbern dürfen und Austausch haben?

Wir sind alle Drop-Outs, schreit die nächste Generation.
Wir kommen.
Wir brennen diesen Ort der Welt auf die Haut, okay? Nackt sein kann jeder, Freiheit ist eine Frage des Zeitpunkts, und – Kunst: das ist nichts als die Botschaft davon. “Message”, kapierste?

Ja, so ist es passiert, und so war es gedacht. Mal ehrlich: Unser Worpswede kann da nicht mit. Gell?

© Manfred Maurenbrecher 1992