Reinhard Mey zum 60sten

REINHARD MEY ZUM 60STEN
(für ‚Der Tagesspiegel’, Berlin)

Bei mir war es ‚Kaspar’, Ballade vom Findling, der in der Lehrersfamilie mit aufwächst, bis die Dörfler ihn erschlagen. Sein Freund, der Lehrerssohn, singt es, und sein Bericht ist präzise, detailfreudig, fassungslos. Jemand, der sich über die Unvernunft der Leute keine Illusionen macht, aber auch darüber nicht, dass er einer von ihnen ist. Sein Lied der Einspruch.
Mit ’Kaspar’ von Reinhard Meys zweiter LP war ich für ihn gewonnen, von seiner Klarheit, vom Schmelz bezaubert. Obwohl die Musik betulich daherkam (was mir heute gefällt), und wir Jüngeren von einer Generation Unterschied ihn als den Freund der älteren Schwester, als strebsamen jungen Erwachsenen ansahen.
Daran hat sich eigentlich bis heute nichts geändert, so lebt man weiter in den intuitiven Weltbildern der eigenen Jugend. Für den Geschmack einer bestimmten Sorte Zeitkritiker war Reinhard Mey immer etwas zu nett, ich glaube, das hat ihn gewurmt und böse gemacht auf Vorurteile, auf den zynischen Zeitgeist noch mehr. Es hätte ihm aber auch ganz egal sein können, denn viele Menschen haben ihm erst nur wegen seiner vielleicht angeborenen Konzilianz zugehört, angezogen von der glücklichen Natur, und dann konnte er sie mitnehmen zu den ihm wesentlichen Dingen. Meine Cousine zum Beispiel, die jetzt, im gleichen Alter wie der Sänger, viel unbestechlicher gegenüber unseren kulturüblichen Selbstlügen dasteht als ein paar der Studienräte, die damals den Degenhardt und den Biermann vorzogen.
Schon auf der zweiten LP mit ’Kaspar’ drauf ist eigentlich der Kreis gezogen, den Reinhard Mey meisterhaft immer neu umfahren hat mit seinen Liedern, die satt sind von Einfällen, Lebensfreude und Übermut: satirische Schlittenfahrten, volksnahe Zeitkritik, Liebesbekenntnisse, Abschieds– und Willkommensgrüße, wehmütiges Tasten am Jenseitsrand. Dann und wann ein Ohrwurm, von dem man denkt: Das hat sich doch keiner ausdenken können. So beständig die Produktivität, so mantrahaft gleichförmig auch ihr Rhythmus: ein knappes Jahr Erfinden, dann Aufnahme, Medienpräsenz, dann Tournee. Immer in Anwesenheit eines großen Publikums, das wirklich auf ihn wartet. Kaum Getrommel. Nie eine richtige Flaute, keine Kehrtwendung, kein Schnickschnack. Bühnenpräsenz vor Zehntausenden ein paar Monate lang jeden Abend.
Demtentsprechend (kein Lebenswandel ohne Schattenwurf) ein ausgeprägter Eigensinn, der manchmal blind macht gegenüber dem Fremden (Bob Dylan vor dem Papst – ein ’Verrat’?)
Wem also die Krisenhaftigkeit der Getriebenen grundsuspekt ist, der kann in kluger Ruhe mit Reinhard Mey durchs Leben ziehen, der ihm zu jeder existentiellen Gelegenheit das passende Lied geschrieben hat. Wem dies Gleichförmige aber suspekt ist – auch der findet Formulierungen, Einkreisungen, Strophen und ihre Echos bei diesem großen Liederdichter, in denen sich alles infrage stellt. Als das Spiel zeigt, dessen Regeln wir nicht kennen. In Dankbarkeit für das Leben.
Herzlichen Glückwunsch!