Verwechsle nicht…

Verwechsle nicht das Paradies mit einem Haus am Straßenrand

Bob Dylans religiöse Rundreise

In einer schneeverwehten Gegend, am Fenster eines Motels starrt unbeweglich ein Mann auf die fallenden Schatten. Die Zeit rast draußen vorbei. Er weiß nicht, warum er grad hier gelandet ist – und auch der Anlaß ist ihm entfallen. Irgendeine Frau hat geschrieben, sehr freundlich hat sie ihm dargelegt, warum sie so sein mußte, wie sie gewesen ist – er versteht überhaupt nicht, was ihn das angehn soll. Außerdem sei sein ‘Sinn für Humanität’ den Bach runter. Lügen und Schmerzen an allem, was schön ist – er hört einen leisen Trauermarsch über den Schneefeldern. Und sieht keinen Unterschied, ob die Orte auf der Landkarte namenlos bleiben oder sich ‘London’ oder ‘das fröhliche Paris’ nennen. Schlaf wäre wichtig. Und warum ist die eigene Seele so unbeweglich geworden, wie aus Stahl? Es ist später Nachmittag, und dieser Punkt im Tagesablauf gibt das Bild ab für Geist und Sinn des Mannes: “Noch ist es nicht dunkel, aber es geht dahin.”

‘Not Dark Yet’
schon vorher auf Handzeichen eingefadet, jetzt laut.
Im Instrumentalteil leiser für:

Im reichen Werk von Bob Dylan – dem ‘Picasso des Liedes’, wie manche sagen – gibt es viele Stücke, die man direkt auf ihn selbst beziehen möchte, so verführerisch persönlich klingen sie. Dieser Sänger war bestimmt hundertmal in London und Paris, hat dort gefeiert, Erfolg und Liebe erlebt – tourt er nicht in verschiedensten Kostumen seit einem halben Jahrhundert um die Welt, allein 1000 Konzerte seit 1988? Und ist er nicht sichtbar müde geworden, kann man ihm den Abschied auf seiner CD ‘Time out of Mind’ vom letzten Jahr denn nicht ehrlich glauben? Wenn er z.B. davon singt, daß er die Wirkung der eigenen Gebete schon nicht mehr spürt?
Aber dies Lied könnte auch vor hundert Jahren entstanden sein – von einem amerikanischen Dörfler gesungen, der sich verkrochen hat: Paris gibt es auch in Texas. Und das Abschließende in dem Lied ist auch ein Neuanfang – wie in dem Trauermarsch ja auch ein zärtlicher, sich verzehrender Blues steckt: Eine weitere Schicht der Haut wird entpellt, noch weniger Dinge werden fortan zählen, Lasten fallen ab. So werden sehr alte Menschen manchmal ganz fröhlich.
Der Globetrotter und der Dörfler, die das Lied singen, vereinen sich bei den Zeilen: “Hier bin ich geboren, hier werd ich sterben.” Das klingt nach Einverständnis. Aber dann kommts: “Gegen meinen Willen!” Wenn man nach einem knappen Ausdruck für den religiösen Antrieb in Bob Dylans Liedern sucht, hier ist er: Gegen meinen Willen bin ich da, wo ich mich hingebracht habe, wo mich jeder erwartet – ich hätte die Welt gern ganz anders erlebt. Und plötzlich hört man das als ein allgemeines Gebet, bei Beerdigungen z.B., wo abgerackerte Leute kurz auf ein Grab schauen und über den Sinn des Ganzen erschrecken: Das solls gewesen sein? Liegt nicht viel mehr in uns drin?

‘Not Dark Yet’ wieder laut bis Ende

Ein Sohn russisch-jüdischer Emigranten, aufgewachsen im nördlichen Mittleren Westen – sozusagen über den Metallvorkommen im Schoß der Vereinigten Staaten -, fand der jugendliche Bob Dylan eine Wahlheimat im Blues der schwarzen alten Männer. Lust und Tod sind die Themen seiner ersten LP – und wer sie hört, hat es schwer zu glauben, daß dieser hysterisch-energetische Zwanzigjährige, der sich hier Alter und Verfall anmaßt, nur ein Jahr später so kluge, sloganreiche, völkerverbindende Politsongs wie den von der Antwort im Wind erfinden würde. 1961 nimmt er sich ein ernstes Stück des alten Blind Lemon Jefferson vor – ‘wenn ich mal nicht mehr da bin, achte drauf, daß mein Grab immer sauber bleibt’ – und macht daraus ein Modell für die eigene Zukunft. ‘Es kann so schnell gehn‘, spuckt seine jung-alte Stimme aus, ‘der Tod lauert immer, und ich will mich nicht ablenken lassen. Soviel unbändige Kraft in mir drin…’ Die Todesklage wird zu einem Ausblick auf die Verführungen, die noch kommen werden. Kirchenglocken und Bibel sind Warnzeichen am Weg, über Generati-onen weitergereicht – aber nicht lässig-weltklug, wie die Mittelschichts-eltern oder der Rabbi zuhaus es tun oder die neuen intellektuellen Freunde in New York, sondern wie eine Medizin und im letzten Moment – in der heftigen Überzeugung, daß das Leben nicht ganz verschwendet werden darf. Daß es jenseits noch etwas Besseres gibt. So gehen einfache Menschen mit der Religion um. ‘Ich will auch so sein’ sagt Dylans Stimme und macht sich alt, um richtig jung sein zu dürfen – frei für das Experiment.

Kurz vorher eingefadet:
‘See That My Grave is Kept Clean’
Ab ca. 2:05 Crossfade mit:
‘Just Like a Woman’
Nach einer Minute leiser unter folgendem Text:

Coolness, Eleganz. Dylan auf dem Höhepunkt seiner ersten Karriere, ein Derwisch modernster Popmusik, quicker Analytiker seiner Generation, umgeben von bewußtseinserweiternden Dingen. ‘Wer nicht beständig geboren wird, stirbt ständig’ist einer seiner Slogans, alle ahmen ihn nach, ‘Gott? Das muß eine Frau gewesen sein, davon haben wirs ja’, plaudert er im Interview. Die Welt als Spiel, die Stimme zu allem fähig, gleich gültig – wer hätte diesem Sänger Anfang 66 religiöse Überlegungen zugetraut, wenn er auch über Madonnen sang und Visionen von Johanna? Dazu ist der doch zu hip… Aber plötzlich, in diesem Lied über eine Kindfrau, die schmerzhaft zerbricht, dann ein Mittelteil, der wie die Innenaufnahme zu einer Geburt klingt: “Ich kam hierher. Dein langer Fluch tat weh, aber schlimmer noch ist der Schmerz hier drin. Ich kann hier nicht mehr sein. Ich hoffe, du siehst ein, ich paß hier nicht mehr rein…”
Wie unterwegs geboren, wiedergeboren – anderswohin geboren…

‘Just Like a Woman’ wieder laut bis Ende.

Ein Mann ist einem tödlichen Strudel entkommen. Er hat die eigene Energie rücksichtslos ausgebeutet, aber im letzten Moment hat jemand die Notbremse gezogen – eine Frau, die der Erfolgreiche kurz vorher heimlich geheiratet hat. Manchmal kommt ihm das nicht geheuer vor – ist sie ihm von irgendwo geschickt worden? Aber er läßt sich drauf ein, legt den Beruf eine Weile beiseite, zeugt Kinder mit ihr, findet sich in den Kreislauf von Aufblühen und Vergehen. Er beschäftigt sich mit dem Glauben seiner Väter – auch seine Frau hat jüdische Vorfahren und stammt aus der gleichen Gegend wie er, oben im Norden, wo die Luft nach Metall riecht. Irgendwann im Sommer setzt er sich an ein Klavier und singt ihr mit ein paar Freunden ein Lied von dem apfelschüttelnden Baum, unter dem sie grad lagen und zu dem sie beide auch werden könnten, von den sieben Jahren, die er noch hofft zu erleben – ein paar Talmudverse fallen ihm ein – Gott Vater, das Paar und ein Apfelbaum – und eigentlich geht es jetzt nur darum, ob die Zeit es schafft, stillzustehn…

Kurz davor eingefadet:
‘Apple Suckling Tree’
Nach zwei Munten Crossfade zu:
‘Shelter From the Storm’ (live)
Folgende Absätze in den Instrumentalpassagen:

“War in ’nem andern Leben aus Plackerei und Blut,
die Schwärze war ne Tugend, der Weg noch voller Kot,
so kam ich aus der Wildnis, ein Wesen ohne Form,
komm rein, sprach sie, ich geb dir ein Schlupfloch vor dem Sturm…”

Mit der Arbeit kommt der Erfolg zurück, breiter als vorher, und mit dem Erfolg kommt die Krise. “Romanzen behalten den Sieg”, notiert Dylan auf der Rückseite seiner LP ‘Desire’ von 1975, wo er mit schickem Medallion um den Hals zu sehn ist, eine Tarotkarte daneben, viele Frauen, ein Buddha, alles vorhanden…

Er hat die wüsteste Band seines Bühnenlebens, ‘Rolling Thunder’. Der Dichter Allen Ginsberg umgibt ihn mit Mythenwissen und mystischem Gerede. Indem er eine neue Jagd entfacht, will er die Frau zurückerobern, die ihm den Schutz vor der Jagd geboten hatte. “Himmel ist immer genau das Gegenteil von dem, was die Experten sagen.”

“Ach wissen Sie, ich kann Gott in einer Blume, in einem Sonnenaufgang erkennen”, hat er einer Interviewerin erzählt. In dem Lied gerade geht er noch einen erheblichen Schritt weiter: “So sanft kam sie auf mich zu und nahm mir meine Dornenkrone ab…” – Übermut? Auf jeden Fall eine fröhliche Kriegserklärung…

Das Irre an dieser Aufnahme von 1976 ist, wie das Lied in die Zukunft jagt und dabei alles wieder eintreffen läßt, was den Worten nach längst vorbei ist. Die Vergangenheit wird zu Drohung, und kein Schutz mehr vor dem Sturm. “Der Ablauf alleine zählt”. Ablauf heißt ‘doom’, und doom ist das bescheidene, düstere Schicksal im alten Blues.

Zwei Tourneen und viele Liebhaberinnen weiter findet ein ausgelaugter, immer noch starumjubelter Bob Dylan auf einer texanischen Bühne ein kleines Kreuz. Er steckt es gedankenverloren ein. Seine Ehe ist da längst geschieden, nur ein weiteres Symbol für abgebrochene Brücken.

Sein Wunsch, daß sich ihm Gott und die Frau seines Herzens noch einmal wie anfangs, wie “gerade geboren” zeigen würden, hat sich dem Sänger nicht erfüllt. Jemand anderes hatte die Dornenkrone auf, und der sagte in einem texanischen Hotelzimmer wahrscheinlich sinngemäß: Wenn einer von uns sich ändert, dann du…

Anfang 1979 ließ Bob Dylan sich taufen und besuchte einen monatelangen strengen Bibelkurs wiedergeborener Christen. Das hatte u.a. zur Folge, daß er zwei Jahre lang keins seiner alten Lieder mehr sang. Auch, daß er zu predigen anfing. Die Leute hörten nicht gern, wie er gegen die Verderbtheit wetterte…

‘Shelter From the Storm’ laut bis Ende

Was den Mann, seit er um die Vierzig ist, am meisten anwidert, sind diese lockeren Liberalen, die sich Pazifisten nennen, aber sich einen Wachschutz vor die Villa stellen. Die ihre Töchter auf entlegene Internate schicken, aber Kunden im Call-Girl-Service der Stadt sind. “Es kostet mehr, überzählige Nahrungsmittel zu vernichten als sie frei zu verteilen”, wenn er sowas sagt, schauen ihn seine sogenannten früheren Freunde unsicher an und murmeln, daß sei aber ein diffiziler ökonomischer Prozeß. ‘Die glauben an ihre Jobs, die können sich die Dunkelheit gar nicht vorstellen, die Gott auf uns losschicken wird‘, denkt er, und laut sagt er: “Pornografie an den Schulen, Heuchelei in der Kirche.” So kommt kein Gespräch zustande, das weiß er selbst. Mit den Mädels aus seiner Band kann er besser darüber reden. Die lachen dann auch mal. Die sind schwarz, und deren Väter waren begnadete Prediger. Begnadete Spieler wahrscheinlich auch – aber eben nicht solche scheinheiligen Karrieristen. ‘Jefferson würde sich im Grabe umdrehn…’ Auch die Pfarrer in seiner Glaubensgemeinschaft kotzen den Mann schon wieder an: Ständig mischen sie sich in seine Privatsphäre – ob er während der Auftritte Wein trinkt, ob er mit einer der Chorsängerinnen was hat… Es ist schwer, nach dem Wortlaut der Bibel zu leben. “Versuchte die Wahrheit zu finden, wie Gott sie wollte. Die Wahrheit wird sein, daß ich sie nicht finden sollte.” So steht es in einem seiner neuen Stücke, von denen er über 50 in anderthalb Jahren geschrieben hat. Sie kreisen alle um die Gestalt des Sohns, der den Tod des Verbrechers starb, um die Welt zu retten. Der Verbrecher ist dem Sänger wichtig: Die begreifen nämlich alle nicht, wer die wirklichen Verbrecher sind. Fühlen sich wohl mit der lebenden Leiche Gesellschaft, dem Teufel mit Spinnweben auf der Seele, Staub in den Augen: “Toter, wann willst du dich nochmal erheben?”

Der Kollege Leonard Cohen ist neulich, als alle über den religiös gewordenen Bob Dylan gelästert haben, aufgestanden und hat erklärt: ‘Und was ist mit Picasso? Auf einmal malt er wie aus dem Barock heraus. Und einfach wie ein Kind. Alle Kunstfachleute tun entsetzt, aber die Bilder sind großartig…’
Und das stimmt. Manche klingen so, als wäre nur eine winzige Entscheidung nötig, und wir hätten das Paradies auf Erden. Der düstere Ablauf wäre zerbrochen. Aber das glaubt sich der Sänger dann selbst nicht: Wenn er den Abend vor der Kreuzigung nacherzählt, kann er einfach nicht dagegen an, daß seine Stimme sich den Tod des Heilands genauso wünscht wie dessen Sieg. Er muß das Wirkliche singen…

‘In the Garden’, ab ca. zwei Minuten leiser unter folgender Passage:

Die Geschichte von Judas Pfaff und Frankie Frei ist schnell erzählt. Dylan hat sie Ende 67 aufgeschrieben. Sie waren beste Freunde, Frei lieh sich Geld von Pfaff, und der sagte: “Gibs mir weiter unten wieder, ich leb da in einem Haus, das nennt sich Paradies.” Frei kommt nach einer Weile dahin, das Haus sieht wie ein Adventskalender aus: mit 24 Fenstern und einem Frauenkopf in jedem drin. “Ja, das ist das Paradies”, sagt Pfaff. Frei legt eine Beichte ab, drei Wochen lang rast er im Bekenntnis seiner Sünden, dann bricht er zusammen: Sein Durst ist zu groß. Ein kleiner Nachbarsjunge hilft, ihn aus dem Haus herauszutragen. Dann folgt noch eine listige Strophe Moral: Bleib nicht da hängen, wo du nicht hingehörst. Hilf deinem Nachbarn, wenn er eine Last tragen muß. Und verwechsle nie das Paradies mit einem Haus am Straßenrand.”

‘In the Garden’ laut bis Ende

Natürlich sind Judas Pfaff und Frankie Frei eine Person. Und Bob Dylan ist beim Fundamentalismus nicht stehen geblieben. Er führt – neben vielem anderen – ein konstantes Gepräch mit Gott; man schneide zehn Life-Fassungen von ‘Knocking on Heavens Door’aneinander, dann hört mans. Am Ende hält ein Mann sich an seinen Beruf – vielleicht unterscheidet ihn das von den Frauen -, und in Dylans Fall ist es das Singen. “Wenn ich Hank Williams höre, ‘I saw the Ligh’, dann seh ich’s, dann glaub ichs. Mehr als jedem Prediger”, sagte er dieses Jahr. Als ihm der Papst die Hand schüttelte und meinte, auf all die Fragen, die Dylan noch immer in der Luft flattern sähe, könne er, Papst, eine Antwort geben – ich meine, da muß er ein wenig gegrinst haben. Aber nicht böse, denn das gehört auch dazu, wenn man sich häutet und Last abfällt: Wozu noch böse sein? Lieber staunen. Wenn ein Gesicht einen anstrahlt zum Beispiel, das von woanders herzukommen scheint und dran erinnert, daß man nicht freiwillig hier ist. Gegen seinen Willen ist man entzückt und bittet: ‘Erzähl doch mal, wie sieht’s da drüben denn aus – mein Engel…’

‘When Did You Leave Heaven’

© Manfred Maurenbrecher 1998