Die Klobrille und Pulp Fiction

DIE KLOBRILLE UND PULP FICTION
Erinnerung an die Arbeit mit einer Fernsehserie (1996)

Ein junger Mann mit Sonnenbrille und einer Plastiktüte kommt in eine Autobahnraststätte. Es ist dort nicht viel los. Er geht aufs Klo, schließt sich ein, holt aus der Plastiktüte eine kleine Bombe, stellt den Zeitzünder auf null Uhr, versteckt die Bombe im Becken und kommt wieder raus. Der Toilettenfrau legt er eine Mark auf den Teller. Er sagt: “Bitte”. Oder sagt er besser gar nichts, und sie sagt: “Danke”? Oder schweigen sie beide und nicken sich nur zu?
So stand die kleine Szene im Treatment zur Folge eins einer Fernsehserie – wir sollten sie dialogisieren. Wir entschieden uns für’s “Bitte”, und damit schien uns der Fall erledigt.

“Ja, habt Ihr schön gemacht, doch doch”, sagte väterlich der Hauptautor des Drehbuchs, als er unsere Dialoge durchgesehen hatte. “Aber hier, gleich am Anfang, die zweite Szene da, schaut mal…” Er fegte ein paar Gläser beiseite und beugte sich an seinem Zwei-Meter-Kirschholztisch zu uns vor: “Fällt euch wirklich nichts auf? Na?” Er stieß mit seinem dicken Mittelfinger auf das Wort ‘Bitte’.
“Er könnte natürlich auch was anderes sagen”, räumte gleich einer von uns ein – “oder auch gar nichts”, der andere. “Mmh mmh” – der Hauptautor schüttelte langsam den Kopf und fand zu einer Miene, die professionelles Geheimnis verriet, “tut mir leid, es euch sagen zu müssen, aber da ist eine Unlogik drin… Ihr Jungs solltet immer das Ende im Auge behalten.” Er lehnte sich jetzt zurück. Er hat für Wenders gearbeitet, für Schlöndorff – “Welches Ende bloß”, dachte einer von uns, und der andere sagte: “Ende gut, alles gut…” Der Hauptautor sah jetzt so richtig genüßlich aus. “Wenn am Ende der Folge der junge Gangster wieder in diese Raststätte kommen wird und ruft dann ‘Hände hoch'”, dozierte er und tat so, als wäre er furchtbar nachdenklich. Wir taten auch so, mit ihm. Nach einer Weile nahm einer von uns den Faden auf: “Naja, wenn er vorher ‘Bitte’ gesagt hat, dann erkennt die Klofrau später ja vielleicht seine Stimme…” – Der Hauptautor lehnte sich zurück: “Jungs, ihr denkt prima mit”, rief er und schenkte von dem dreißig Jahre alten Grappa nach, der ihn immer so beflügelt, “er weiß natürlich am Anfang, daß er nichts sagen darf, er muß ja unerkannt bleiben”, faßte er zusammen. “Aber die Klofrau, die sieht ihn doch auch… anfangs und dann am Ende”, fragte zaghaft einer von uns – aber dieser Einwurf ging schon verloren in Anekdoten über die früheren besseren Zeiten, die innere Logik des Filmens, die handwerklichen Unterschiede zwischen Wilder und Wenders… Wir einigten uns schließlich zu dritt auf ein ‘Danke’ der Klofrau – und weil wir ihr nach drei weiteren Grappas noch etwas Ländliches geben wollten, wählten wir endgültig ein ‘Vergelts Gott’. Damit schien uns der Fall erledigt.

Eine Fernsehserie ist kein Autorenfilm – ‘Autorenfilmer’ ist für die Leute, die Serien herstellen und finanzieren, sogar das mieseste Schimpfwort, dessen sie fähig sind, viel beleidigender als etwa Kinderficker oder debiler Massenmörder. Was an Worten und Einfällen die Autoren einer Serie so alles anbieten, wird von den Regisseuren z.B. höchstens als vorläufige Meinungsäußerung hingenommen – wie manche Verkehrsteilnehmer die bunten Schildchen am Straßenrand auch nur für eine Art von aufwendigem Vorschlagssystem halten. Unser Regisseur damals war ein Schwabe, der keine Sekunde stillsitzen konnte. Immer zwei Handys im Arm, ein paar Notizzettel und einen Laptop um sich herum, tobte er wie ein Bulle durch sein Büro, sprach wie mit Zwanzig, wollte aussehen wie Dreißig und war Anfang Vierzig. “Desch is geil”, rief er manchmal, irgend einen Zipfel unserer Dialoge mit den Augen fassend, etwas fix mit lila Marker heraushebend – manchmal waren es die Seitenzahlen des Manuskripts – , “woischt, bei mir muß es ‘Bumm’ machen”, schrie er, “Kamera so aus dem Handgelenk, Volldrehung, Totale – Schnitt, woischt!” Dann blieb er schlagartig stehen. “Aber desch hier”, er deutete auf eine fast leere Seite – seine Assistentin duckte sich schon unter dem plötzlichen Groll seines Blickes -, “desch hier…” Er konnte etwas partout nicht fassen, “desch is ja…” Wir traten hinter ihn und machten entsetzte Gesichter: Er hatte die Klo-Szene vor sich.
“Desch goit so netta”, entschied er. Er begann nun wieder, wie so viele Male vorher schon, von ‘Pulp Fiction’ zu reden, von der kommerziellen Alltäglichkeit butaler Gewalt, ihrer ätzenden Geilheit bzw. geilenden Ätzendheit, und daß er nicht vorhabe, jemals das Sandmännchen zu verfilmen… “Noi noi, mindestens zwei müssen’s sein, der eine gibt Feuerschutz, der andere fegt die Toilette leer, springt an der Stellwand hoch, erledigt noch einen Pinkler, fesselt die Klofrau, und dann aber ab mit der Bombe!” – “Ja, aber…”, wandten wir ein, doch er ließ es nicht gelten: “Logik, da scheiß’mer drauf – desch da muß brummen, bumm muß es machen, und Schwenk, und dann… Schreibt’s desch bloß um, klar!”

Wir trollten uns. Wir saugten uns was aus den Fingern. Wir bekamen dann einen Anruf vom Produktionsbüro, in dem uns klargemacht wurde, daß natürlich der Regisseur einer solchen Serie keineswegs irgendwelche eigenen Anregungen zu geben hätte – “Ich meine, bestimmt jetzt der Fahrer eines Fracht-LKWs neuerdings schon selber über die Art der Ladung, die er da transportiert? Na also…” -, aber da wir ja wohl gerade an den Änderungen der Kloszene säßen, sollten wir doch unsere neue Fassung ganz nebenbei einmal rüberfaxen. Der Koordinator würde sie sich dann vornehmen, der hätte nämlich auch noch Ideen.

Ein Koordinator ist nicht der Regisseur, auch nicht der Produzent einer Serie und schon gar nicht der Redakteur, der sie im Namen seines geldgebenden Senders am Ende dann vielleicht abnimmt. Ein Koordinator ist dazu da, daß all diese wichtigen Damen und Herren sich aus dem Weg gehen können – im Normalfall mag nämlich einer den anderen nicht. Und nach dem Gesetz, daß jeder einmal auf einen Posten gestellt wird, dem er nicht mehr gewachsen ist, wird im Normalfall zum Koordinator ein Mensch gemacht, der es gewohnt ist, den einen gegen den anderen auszuspielen. Das kann er glänzend, aber weil er bisher nur ein kleines Licht war, hat ihn keiner so richtig dabei beobachtet. Der Intrigant hat auf jeden sogar insgeheim ganz sympatisch gewirkt, deshalb wurde er ja Koordinator, und jetzt weiß er nicht mehr, wohin – also Flucht nach vorn.
“Ich mache den Film”, sagte unser Koordinator immer gern und zu jedem, der ihm über den Flur lief. “The making of a book”, rief er einmal stolz der Putzfrau zu, als er wiedermal verschiedene Drehbuchfassungen bunt durcheinandermischte und mit seinen eigenen gestanzten Zwischendialogen versah. Unser Koordinator hauste in seinem Büro wie in einem dritten Aufguß von Pulp Fiction selbst – mit heruntergelassenen Rollos, Ventilator, einer gebückt tippenden blutjungen Schreibkraft, einem verlegen herumschwänzelnden neunzehnjährigen Atlatus, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, die Finger immer an den gestreiften Hosenträgern, schnapp machend, weitläufige Grafiken des Handlungsverlaufs, der Terminplanung und des Castings hinter sich an der Wand. Als er uns rufen ließ, um uns seine vorläufige Endfassung der Kloszene zu präsentieren, saßen wir auf zwei Stühlen und er in einem drehbaren Ledersessel über uns. Zur Bekräftigung seiner Argumente hatte er noch einen glatzköpfigen Muskelprotz beigeordnet, der nun überhaupt nicht wußte, warum er dort eine dreiviertel Stunde lang mit herumstehen sollte.
“Alles ganz schön und gut”, sprach langsam der Koordinator und stellte sein Telefon auf lautlos, “aber wir sind hier am starting point, und wir entwickeln die Dynamik des Films”, – schnapp, schnapp, er zog das Manuskript zu sich ran – die Szene war, wie wir sahen, jetzt auf mindestens sieben Seiten angeschwollen, “und das bedeutet: wir müssen die basics etablieren: Angst, Liebe, Hoffnung. Ich habe deshalb eine junge Mutter mit eingeführt, die ihre kleine Tochter sucht, die sich ins Männerklo verlaufen hat, urmenschlicher Konflikt”, – der Koordinator wies auf seinen Atlatus, der ganz stolz nickte, offenbar war der Einfall von ihm, “und diese Mutter traut sich dort natürlich nicht rein. Sie bittet also den Bombenleger, nach ihrer Tochter zu schauen. Im gleichen Moment aber kommt ein Handtaschenräuber, wirft die Mutter bei dem Versuch, sie zu berauben, zu Boden, und unser Bombenleger… was sagt er zu der Mutter?”, fragte herausfordernd der Koordinator, erst uns, die wir beide schwiegen, dann seinen Atlatus. “Vielleicht: Darf ich helfen, Gnä’ Frau”, antwortete der sehr vorsichtig. Schnapp, schnapp. “Das sagt er natürlich nicht!”, donnerte der Koordinator, “er sagt im Sinne der basics, die wir hier etablieren: Korinther 15, Vers 4. Tja. Tarantino. Philosophie der Gewalt. Da erbleicht die Mutter natürlich, der Handtaschenräuber aber auch. Klimax. Der Bombenleger fegt ihn mit seiner Magnum beiseite, rettet das Mädchen, gibt dann der Klofrau die Mark, alles läuft – sehr hübsch übrigens euer Einfall mit der bayerischen Mundart, aber sie sollte vielleicht doch eher sagen: ‘Vergelts Gott, der Herr’ – tja – Purgatorium… und dann…” Der Koordinator hatte den Faden verloren, wir auch, verlegenes Schweigen – der Glatzkopf konnte uns nur noch zum Fahrstuhl bringen, wo wir einer lauen Sommernacht und dem Entschluß entgegenfuhren, doch einmal wieder ganz vernünftig an etwas Nettem zu arbeiten.

Als das Drehbuch auch noch durch die Hände des Ausstatters, des Produktionsleiters, der Produktionssekretärin und nochmal des Koordinators gegangen war, hatte schließlich die kleine Szene die Form eines mittleren Experimentalfilms angenommen. Vor und auf dem Klo einer Autobahnraststätte trafen, liebten und verfolgten sich: mehrere Lederschwule, eine rumäniendeutsche Klofrau, zwei Spanner vom Reinigungsdienst, eine Mutter mit Fünflingen, die sie ständig aus den Augen verlor, ein Vater mit seiner tennisschlägergeschulterten Tochter, die ihn laut des gehabten Inzestes beschuldigte, als Gastrolle Manfred Krug mit einer Werbung für die Bundesrentenanstalt…

Als aber einen Monat später gedreht wurde, waren bis auf den Redakteur des geldgebenden Senders alle anderen längst gekündigt und die Szene ganz wieder so wie am Anfang. Ohne ein Wort – weder bitte noch danke.