Untergrund

UNTERGRUND

Ein romantischer Ausflug nach Ideen und mit der Figur von Tom Waits

 

Let me get up on it
Nach ca. 30 sec. langsamer Fade für:

Ich traf den Mann im Durchgang zwischen zwei Kaufhäusern. Es war an dem Tag, als alle Zeitungen den Vorzug von 610-Mark – Jobs anpriesen. Es nieselte und zog. Das karibische Pärchen, das ein paar Meter weiter eine sanfte Straßenmusik an die Passanten bringen wollte, der glatzköpfige Wachmann mit dem Bullterrier an kurzer Leine, das alles schien den Mann nicht zu kümmern. Er stampfte und stakste im Kreis. Er hielt das wahrscheinlich für Tanzen, und ein Hut auf dem Boden forderte uns auf, es ihm zu honorieren. Ich mußte erst mitleidig grinsen bei dem, was er sang, dann hörte ich zu: “Es gibt ne große, dunkle Stadt, einen Ort, den ich gefunden hab, eine Welt für sich lebt da, unter Grund. Sie sind lebendig und wach, dort unterm Stollen des Minenschachts, alte Wurzeln hängen herab, und sie marschieren auf und ab, eine Welt ganz für sich, unter Grund.”

Kurz davor eingefadet: ‘Underground’. Bei ca. 1.00 leiser für:

Die Passanten schlugen die Krägen hoch und eilten weiter. Mich hatte der Mann gepackt. Er sah selbst aus wie gerade gekommen aus dieser Unterwelt, die er anpries, und von der ich im übrigen auch schon gelesen hatte: Sammellager für nicht mehr Vermittelbare am Rand der Stadt. Ich nestelte einen Zehnmarkschein aus meinem Anorak.

‘Underground’ wieder laut bis Ende

Als einziger wollte ich nicht klatschen, als er fertig war. Ich wollte aber den Zehnmarkschein auch nicht lieblos in seinen Hut werfen, ich stand dumm herum – und hätte längst weitergemußt, auf ein Amt, einen Förderantrag abgeben für ein Kulturprojekt, meine Miete für die nächsten Monate hing davon ab. Der Straßenmusikant kam auf mich zu, mit der einen Hand faßte er meinen Geldschein, mit der anderen fuchtelte er vor meinen Augen herum und drängte mich dabei in eine stille Ecke. Ich roch seinen Atem. Ich sah in seine besessenen Augen.
“Hier”, sagte er, “sie ist meine einzige, alles, woran ich denke, schau hier, in meiner Brieftasche, das ist sie. Auf einem Bauernhof großgeworden, es gibt eine Stelle auf meinem Arm, da hab ich ihren Namen neben meinen tätowiert, verstehst du, ich kann nicht leben ohne sie, ich bin ihr einziger Typ.”

Kurz vorher eingefadet: ‘Johnsburg, Illinois’

‘Ist ja schon gut’ – halb gerührt, halb angewidert machte ich mich aus der Umarmung frei, ich mußte weiter, meine eigenen Angelegenheiten regeln, konnte mich doch hier nicht in der Lebensgeschichte eines wildfremden Menschen verfangen…
“Und mit ihm gings bergab”, rief da der Musikant plötzlich – ich weiß bis heute nicht, meinte er sich oder mich, “mit ihm gings bergab…”

Ab hier leise eingefadet: ‘Down down down’

“…der Teufel sprang ihm auf seinen Kopf, schreiend drehte er durch, der Teufel holte ihn sich ins Bett… mit diesem Kerl ging’s bergab…” Begeistert schrie er mir das ins Ohr, während ich mich losriß und weglief, es war wie ein Fluch, war auch wie Flucht von mir, aber trotzdem überkam mich eine Welle Begeisterung wie schon lange nicht vorher: “Bergab”, meine Füsse rannten mit diesem Echo von selbst.

‘Down down down’ hoch, bis ans Ende.

In den nächsten Wochen war ich so gut gelaunt wie selten. Und eigentlich ohne Grund. Der Termin beim Kulturamt war längst verstrichen, ich hatte eine kleine Frau mit zerbissenen Lippen aufgegabelt, mit der ich bei mir zuhaus soviel fröhlichen Krach machte, daß ich meine Zweizimmer-Wohnung bald los war – fünf ausstehende Mieten und ein Treppenhaus voller Flaschen hatten das Maß vollgemacht. Ich hatte alte Freunde abgeklappert. Man schleppt anfangs ne Menge Zeug mit sich rum, wenn man obdachlos geworden ist, in der Hoffnung, es irgendwo unterzustellen. Wenn die alten Freunde einen in ihre Leben nicht einpassen können, trennt man sich von dem meisten, und irgendwann ist eine leere Pfandflasche dann so heilig wie früher ein altes Familenfoto. Ich konnte mich begeistern an dieser Erfahrung, redete auch gerne davon. Am liebsten mit Frank, einem Architekten, der mich erstaunlich lange beherbergte. Seine Frau mixte gern Bloody Marys. “Ich lese grad eine Story, die meinen Namen trägt”, sagte Frank eines Abends, “und auch der Frank dort lebt übrigens mit einer Frau, die ihm wunderschöne Bloody Marys mixt. Irgendwann kommt er von der Arbeit, holt an einer Tankstelle mehrere Liter Benzin, übergießt seine Bude damit, zündet an, parkt dann auf der anderen Straßenseite und lacht sich scheckig, wie alles abbrennt.” – “Tja, was hindert dich?”, fragte ich lachend, während Franks Frau fragte: “Und was wird in dieser Geschichte aus Franks Frau?” – “Der Schlußsatz”, sagte mein alter Freund Frank, “der Schlußsatz dieser Geschichte lautet: ‘Ich mochte den Typ noch nie’! Und das Komische ist” – damit wandte er sich an mich, “das Komische ist, mein Lieber: Diesen Satz bezieh ich leider auf dich!”

Ab hier ganz leise drunter: ‘Innocent when you dream’ (barroom)

Ich hatte kein Problem damit, wieder draußen auf der Straße zu stehn. Die Stadt kam mir vor wie Vergangenheit, an so vieles durfte ich mich erinnern. Was mir die Tage versüßte, waren die Melodien des Sängers und Musikanten, dem ich immer mal wieder begegnete. Mag sein, er hatte mir den Teufel an den Hals gehext – ich war wohl in einer Phase, wo ich das mochte. Ich hörte ihn immer schon von weitem und kam dann unweigerlich näher. Ich träumte. “Du bist unschuldig, wenn du träumst”, sang er gerade.

‘Innocent…’ laut
Ab 2. Strophe leiser für:

Es gab gefährliche Situationen. Mal biß mich ein Hund, mal klaute mir jemand im Schlaf meine heilige Pfandflasche. Ziemlich ungemütlich wurde es, als kein Bankautomat mehr auf das Hereinschieben meiner Plastikkarte antworten wollte – sie kam mir danach auch abhanden, egal. Ich hatte jetzt meinen festen Schlafplatz ‘unter Grund’, immer mehr von uns stiegen dorthin ab. Gewiegt von der Schunkelmelodie, wie sie durch die Straßen der leeren Stadt hallte – nur für mich, oder für uns alle? – blieb ich unschuldig, weil ich ja träumte…

‘Innocent…’ laut.
Ab 3. Refrain leiser für:

Die kleine Frau mit den zerbissenen Lippen beschuldigte mich, ich hätte ihr in den Kellern Gewalt angetan – ich wußte nichts mehr davon. Ich erinnere mich, daß es enger wurde dort unten. Eines nachts traf ich dort auch Franks Frau – “Ich habs gemacht wie der Frank in der Story”, kicherte sie und breitete eine Decke am Feuer aus. Noch ganz andere Gestalten fanden sich unten an, sogar große Namen, bekannt aus Funk und Fernsehen: Wie erlöst von allen Verantwortlichkeiten lebten wir so dahin, schunkelten und sangen…

‘Innocent…’ laut bis Ende
Direkter Anschluß zu: ‘Lucky Day’ (Overture)
Nach 20 sek. leiser für:

Scheinwerfer von allen Seiten, besonders von oben, von wo auch die Stimme des Ansagers kam – brutal geweckt schreckten wir hoch in den Kellern und sahen im grellen Licht, wo wir waren: Auf einer kilometerlangen Strecke aus Menschenhaufen, Abfällen, Asche und Kot. Übereinandergetürmt, ineinander verkeilt: Menschliche Monstrositäten!

‘Lucky Day’ wieder laut
Bei ca. 1.05 Minuten leiser für:

Die Heimstatt aufgerissen, und die grelle Stimme beschrieb uns höhnisch von oben herab: “Das dreiköpfige Baby, Die Affenfrau, Jo Jo der Junge mit dem Hundegesicht, Der Deutsche Zwerg, Hitlers Gehirn. Koko das Vogelmädchen….” – “Wir sind jetzt in seinem Musical”, flüsterte jemand in meiner Nähe, er läßt es wirklich hier unten spielen, bei uns”. Das klang ehrerbietig. “Wer denn, und was soll der Lärm”, fragte ich. “Na, Er”, sagten mehrere gleichzeitig, “der uns verhext hat, der uns hier hergebracht hat – zum Glück – zum Glück – zum Glück”. Sie überschlugen sich mit ihren Stimmchen.

‘Lucky Day’ laut bis Ende

In den kleinen Batteriefernsehern, die manche von uns in den Kellern horteten, sahen wir ein festliches Premierenpublikum, das unter Blitzlichtgewitter die Treppe zu einem Opernhaus hochschritt – das mußte irgendwo oben in der toten Stadt sein. ‘Black Rider, Musik von Tom Waits’ prangte als Plakat über dem Eingang des Gebäudes. Dann sahen wir, wie der Zuschauerraum in der Oper kreisrund ausgesägt wurde, und die feierlichen Besucher dort beugten sich über den Rand und starrten nach unten. Auf uns. “Ist das nicht großartig”, flüsterte mir die Kleine mit den zerbissenen Lippen zu – sie versuchte schon seit längerem, sich wieder mit mir zu versöhnen. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich ging zu Franks Frau rüber und ließ mir einen erfrischenden Bloody Mary mixen. Dann sagte ich: “Was für ein Aufwand. Die meisten sind eh schon hier unten. Wozu noch Oper?” In diesem Moment sah ich Ihn, den Sänger der Unterwelt – er wollte tatsächlich gerade beginnen, dort oben das große Orchester zu dirigieren. Er sah mich auch. Ich holte meine leere Brieftasche raus, warf sie mit Schwung zu ihm hoch und flüsterte lautlos, doch so, daß er’s gut verstehen konnte: “Es gibt eine Stelle auf meinem Arm, da hab ich ihren Namen tätowiert, ich kann nicht leben ohne sie, ich bin ihr einziger Typ…”

Danach ging alles ganz schnell: Die Dunkelheit kam tröstend zu uns zurück, das Fernsehen unterbrach seine Übertragung, in unsere Keller strömten mehr und mehr Menschen. Der Sänger war wieder nah, er erzählte uns, daß man alles verlieren kann, nur jenes große, eine Gefühl nicht – ich weiß bis heute nicht: Handelt er im Auftrag, oder kommt das über ihn, was er treibt? Es war mir egal: Wenn das die Hölle ist, dachte ich, dann ist sie äußerst angenehm.
Wie man hört, streiten oben die wenigen verbliebenen Politiker unverdrossen über den Sinn der 610-Marks-Jobs herum. Wir liegen hier, und wir singen. Warum auch immer, warum auch nicht…

Mit dem letzten Absatz eingefadet: ‘That Feel’ bis Ende

© Manfred Maurenbrecher 1997