Musen, Reiterinnen und Hyänen

MUSEN, REITERINNEN UND HYÄNEN

Eine Plauderei über Kunst und Künstlerinnen

1.

SIE:
Unsere Geschichte spielt in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Wie fangen wir an?

ER:
Vielleicht ganz grundsätzlich: Trifft ein Mann eine Frau.

SIE:
Haben wir soviel Zeit? Ich mach’s mal etwas kürzer: Trifft ein älterer Mann eine jüngere Frau.

ER:
Dann will ich auch nicht trödeln: Trifft ein älterer, phantasiebegabter, erlebnishungriger Mann…

SIE:
…eine junge Frau auf ’nem Pferd?

ER:
Moment! Er malt sie vielleicht so, aber getroffen hat er sie auf einem Ball, auf einem Empfang, am Rand einer Vernisage. Oder auch als Modell. Denn unser erlebnishungriger älterer Mann ist ein Künstler…

SIE:
…und die jüngere Frau wird dann notwendigerweise bald seine Muse sein. Gähn! Sie verbindet ihn mit dem Vitalen, den elementaren Kräften, und das Ganze endet erwartungsgemäß furchtbar tragisch. Eine absolut originelle Geschichte…

ER:
…aber immer gern wiederholt. Denk an Picasso und diesen Film, der gerade darüber gedreht worden ist…

SIE:
‘Surviving Picasso’ – wie überlebt man das Leben mit einem arbeitssüchtigen Egomanen – wenn der Meister genug Verliebtheit in seine Bilder gebracht hat, wird er schon Ausschau nach der nächsten jungen Muse halten…

ER:
Die Eltern haben ihre Töchter immer vor sowas gewarnt!

SIE:
…heutzutage bekommt sie vielleicht eine Abfindung, aber früher blieb sie nach der Trennung allein, mit den Kindern, der Schande…

ER:
…während auf den Bildern des Meisters die Schönheit des Lebens erblüht. Immerhin: Die Geliebten leben ja fort durch Erwähnung in Biografien, als Motivgeberinnen…

SIE:
Das hilft ihnen zwar nicht dabei, Miete zu zahlen oder die Kinder großzupeppeln – aber schauen wir uns solch eine typische Künstlerbiografie ruhig mal an – trifft ein Mann eine Frau…

2.

SIE:
Die Zeichnung des Neunjährigen ist begabt, aber noch einfach: Mit Bleistift ins Matheheft geworfen, zeigt sie die Nachbarstochter auf einem tappsigen Ackergaul. ‘Lisa und Hans, ihr Pferd’, steht in krakeliger Kinderschrift unter den Strichen. Vom Zwanzigjährigen gibt es dann das bekannte veristische Ölbild, das ihm zum ersten Galeristen verhalf und Zugang verschaffte zum weltweiten Kunstmarkt: In beklemmender Farbgebung, erfüllt von erotischem Flair der sehnige Rappe, der zum Sprung ansetzt über ein Wasser, getrieben von seiner Reiterin, der, leichtbekleidet, die sausende Luft und der Rausch der Geschwindigkeit Körper und Seele entblößen. ‘Das Mädchen und ihr Roß’ heißt das berühmte Werk.

ER:
So nennt sich erstaunlicherweise auch eine Studie des Zweiundvierzigjährigen, auf der kleine Kuben, Dreiecke, Vierecke in unregelmäßigster Anordnung auf einem Samthintergrund so verteilt sind, daß keine Sinngebung mehr erkennbar ist, aber alles bunt ausgemalt wie mit der Sorgfalt einer Maschine. Und jenes vielbeachtete Environment aus Pappmaché, rostigen Heftzwecken und Gürtelschnallen in Kompost, mit dem der vierundsechzigjährige Klassiker noch einmal Zugang gewinnen wollte zu einer neuen Generation von Kunstliebhabern und – händlern, enthält genau an der signifikanten Stelle, wo das Eisen der Schnalle die Fäulnis berührt, auf einem kleinen Stück Fotobelichtungspapier seine eigenhändige Eintragung: “Wo Pferde sind, sind junge Mädchen nicht weit…”

SIE:
So ließen sich noch viele Beispiele für die motivische Treue dieses vielleicht bedeutendsten Malers unseres Jahrhunderts finden. Die zweite von drei letzten Kohlezeichnungen des Sechsundachtzigjährigen gleicht so sehr jener anfangs erwähnten Skizze des Neunjährigen, das man sie zunächst für ein Fake gehalten hat. Aber der erblindete Meister hat zu jener Zeit nachweislich seine Frühwerke ja gar nicht mehr kopieren können. Die Reife der Strichführung zeigt dem Kundigen außerdem, was alles durchgemacht werden mußte, um solcherart Lebenserfahrung zu bündeln.

ER:
Lisa die Doofe auf dem verdammten Nachbarsgaul“ steht in krakeliger Greisenschrift unter dem Kleinod. Es entstand übrigens nur zwei Tage vor der bekannten tragischen Kollision des alten Mannes mit dem Reitlehrer seiner jungen Gattin und beider so plötzlichem Tod auf dem Grundstück in Surpont da’ll Mare.

3.

SIE:
Jetzt aber Schluß mit den Musen! Ich finde, um unsre Geschichte voranzutreiben, sollte die Frau, in die sich der ältere Meister verliebt, nicht nur jung sein, sondern auch selbst eine Künstlerin!

ER:
Das macht es natürlich noch komplizierter. Vor allem in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Die Eltern werden total dagegen sein. Daß ihr Töchterchen mit einem Maler flirtet, okay – aber jetzt auch noch gleich selber malen, komponieren oder schreiben – das war doch damals ganz selten, das gibt’s doch überhaupt erst seit der Roman-tik…

SIE:
Und schrecklich romantisch wird ältere Meister das erstmal auch finden. Er wird hingerissen sein.

ER:
Erstmal, ja. Wie mein Großvater, als er meine neunzehnjährige spätere Großmutter kennenlernte – die durfte übrigens auch erst Schauspielerin werden, nachdem ihr Vater gestorben war.

SIE:
Immerhin – er ist gestorben, und sie ist’s geworden.

ER:
Ja, für drei Jahre, dann kam das Kinderkriegen an die Reihe. Oder denk an Paula Becker, die mühsam ihre Eltern davon überzeugt hatte, daß sie unbedingt malen muß, und dann einen Maler heiratete, Otto Modersohn, und der redete ihr dauernd ein, ihre Bilder seien überhaupt nicht so gut wie seine eigenen…

SIE:
Und als das erste Kind kam, hat sie das nicht überlebt. Aber wer würde Otto Modersohn heute noch kennen, außer durch seine Frau?

ER:
Davor haben die älteren Männer natürlich Angst: Irgendwann von ihren begabten Schülerinnen-Geliebten überflügelt zu werden. Erst schleppen die dem Meister die Farbe an oder mischen ihm den Zement, aber eines Tages stellen sie ihm ein Bild oder eine Plastik auf den Arbeitstisch, von deren Zauber er noch nicht mal geträumt hat.

SIE:
Und wollen auch noch eigene Ausstellungen, selber berühmt werden!

ER:
Kann man schon verstehen, daß der ältere Herr da ein bißchen auf Distanz geht – Geschäft ist Geschäft, nebenbei, und die Eitelkeit ist nicht leicht zu besiegen!

SIE:
Gemeinsam mit den Eltern der Braut brachte der Bildhauer Auguste Rodin seine zwanzig Jahre jüngere Geliebte und Kollegin Camille Claudel in ein Irrenhaus…

ER:
…und hat selber natürlich unsäglich darunter gelitten. Für ihn war das Ganze ein urtragischer Konflikt…

SIE:
…und für die andern war’s furchtbar romantisch. Vor allem für die Bildhauerin in der Klapsmühle.
Nein – für unsere Geschichte müssen die Frauen schon etwas härter geworden sein, auch raffinierter. Mehr in diesem Jahrhundert, etwas weiter in Richtung Madonna. Fangen wir nochmal von vorne an!

ER:
Ein Mann trifft eine Frau?

SIE:
Eine älterer Künstler trifft eine junge Künstlerin. Es knistert zwischen den beiden. Aber es muß überhaupt nicht so traurig ausgehen wie bei Camille Claudel.

ER:
Jetzt erzähl es schon!

SIE:
Unsere Heldin wurde 1917 geboren, englisches Adelskind, galt als geistig zurückgeblieben, Klostererziehung, sollte Hofdame bei der Königin werden…

ER:
…und wollte eigentlich immer nur spinnen. Mit Tieren reden, malen, zeichnen und schreiben. Erst mit achtzehn bekam sie die Erlaubnis dazu von ihrem Vater…

SIE:
Tiefstes neunzehntes Jahrhundert, obwohl die Geschichte in den dreißiger Jahren spielt…

ER:
Jedenfalls irgendwann 1937 trifft in London der surrealistische Maler Max Ernst eine ziemlich ausgeflippte zwanzigjährige Kollegin, die ganz auf seiner Wellenlänge liegt. Die Dinge zum Fliegen bringen! Er ist damals 46, und die beiden verlieben sich sofort ineinander. Die junge Frau heißt Leonora Carrington.

4.

SIE:
Leonora Carrington ist zwar nicht so bekannt geworden wie Frida Kahlo oder Paula Modersohn, aber sie hatte eine leuchtende Phantasie und war eine der ersten Malerinnen, die sich von ihrem Beruf nicht haben abbringen lassen. Ihre Liebe zu Max Ernst hat sie auch nicht daran gehindert, ganz andere Bilder zu malen als er und Bücher zu schreiben, die er verrückt fand – und er hat sie übrigens auch nicht daran gehindert.

ER:
Sie hatten ein Haus zusammen im Rhônetal, und als Max Ernst 1940 dort verhaftet wurde, bekam Leonora schwere Depressionen.

SIE:
Sie verschenkte sogar das gemeinsame Haus – an einen Nachbarn, um davon frei zu werden, und begab sich auf Wanderschaft…

ER:
‘Gemeinsames Haus’ – Max Ernst hatte es bezahlt…

SIE:
Sag mal, hast du irgendwie Angst vor selbständigen Künstlerinnen?

ER:
Nein nein – ich staune bloß, wie schnell man Häuser loswerden kann…

SIE:
Jedenfalls ließ ihr Vater, der englische Adlige, seine aufmüpfige und offensichtlich verwirrte Tochter daraufhin einfangen und in ein Irrenhaus in Nordspanien bringen…

ER:
Fast wär es doch noch mal tragisch geworden…

SIE:
Aber Leonora konnte fliehen. Sie hatte Freunde, die ihr halfen. Sie heiratete für ein Visum einen Mexikaner und schiffte sich damit ein nach New York.

ER:
Dort traf sie übrigens Max Ernst wieder, der in der Zwischenzeit auch geheiratet hatte: die Millionärin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim nämlich.

SIE:
Kein Bedauern. Für Geld und Kunst war ja wieder gesorgt…

ER:
Und seit jener Zeit lebt Leonora Carrington in Mexiko, heißt es. Angeblich immer noch.

SIE:
Eine uralte und weise Frau…

ER:
Wenn man ihre Bücher liest, sich ihre Bilder ansieht – dann eher eine ziemlich gewalttätige, mit vielen Blutphantasien…

SIE:
Und jetzt sind wir endlich im Zentrum unsrer Geschichte! Nicht: ‘Ein Mann trifft eine Frau’ ist entscheidend, sondern: Eine junge Frau denkt sich eine List aus. Alles, was sie kann, gilt zuhaus als Versagen. Sie soll Debutantin werden am englischen Hof, soll in der Welt der Eltern bleiben, im Neunzehnten Jahrhundert – und dagegen läßt sie sich was einfallen.

ER:
Auf dem Weg zu Madonna. Leonora Carrington konnte übrigens trotz allem auch sehr gut reiten. Max Ernst hat sie gerne mit Pferden portraitiert.

SIE:
Aber besser noch konnte sie sich ausmalen, wie sie selber als Pferd wäre. Oder als eine Hyäne.

ER:
Ja, sie hat eine Art von Humor gehabt. Also – erzähl die Geschichte.

5.

SIE:
(liest ‘Die Debutantin’ von L. Carrington)

6.

SIE:
Was hast du?

ER:
Ich muß immer an das arme Dienstmädchen denken… Und ich stell mir vor, daß vielleicht früher doch manches besser geordnet gewesen ist – nicht für alle, gewiß… Ich habe auch gar nichts gegen die Phantasien selbständiger Frauen, das nicht, aber…

SIE:
Ich glaube, ich weiß, was du meinst – wir sind am Ende von diesem Jahrhundert, mein Lieber…

7.

ER:
Kühlbox, Olivenöl, Feile oder Wein,
es gibt täglich etwas Neues, das ihr fehlt,
ich bitte sie dann immer auf’n Kaffee herein,
und sie erzählt und erzählt und erzählt …

Ihr wahres Sein, das teile sich in Filmen mit,
wie in La Strada, aber nur im Original,
auf die Welt gekommen sei sie mit ’nem Kaiserschnitt,
und sie besitze künstlerisches Potential.

Sie sei sich sicher, daß sie mal berühmt sein wird,
sie entspanne gern bei einem Glas Chablis,
sie sei keine, die sich bei den Männern irrt,
was der Vater ihres Kindes nie verzieh.

SIE:
Wissen Sie, als Künstlerin muß man sich etwas einfallen lassen. Man muß die Dinge in die Hand nehmen, sag ich immer. Ich versuche, mir meine ganz eigene Welt zu schaffen… Und daß Sie als mein Nachbar mir so lieb aushelfen, das find ich wunderbar, ehrlich – ich wüßte manchmal gar nicht, was ich ohne Sie machen würde…

ER:
Sie ist eine, die bewußt am Schweigen spart,
doch sie hat ‘ne zauberhafte Eigenart:
Meine Nachbarin hat süße Füße,
vielleicht die schönsten auf der Welt,
ich gäb ihr alles, was ich geben müßte,
und nicht nur das, was ihr grad fehlt.

Fuchsschwanz, Stichsäge, Hammer oder Beil,
wo ich kann, da helf ich gerne aus,
sie sagt, sie säße grad an einem ganz speziellen Teil,
und damit käme sie auch garantiert groß raus …

SIE:
Eines Abends bat ich ihn dann zu mir rüber. Es war das erste Mal – er ist nämlich ein recht schüchternes Kerlchen, mein Nachbar… Natürlich erschrak er, als er den merkwürdigen Geruch in meiner Wohnung wahrnahm, und diese Kälte … Ich sagte: “Da drüben steht es, mein Kunstwerk”, und führte ihn wortlos ins Atelier.
“Sie dürfen es als erster sehen”, flüsterte ich, “na – ist das ein Meisterstück? Viele, viele Mosaiksteinchen – ein neues Ganzes … Wenn ich vorstellen darf: dieser Eisblock hier ist mein verflossener Mann. Der Mann, das Eis, der Block – Sie verstehen? Nur eines fehlt ihm jetzt noch, dann ist es vollkommen…” Ich deutete lächelnd auf seine Brust, wo sein kleines, warmes Herz aufgeregt hin und her schlug …

ER:
Ich dachte: lauf, so schnell du kannst, noch hast du’s in der Hand,
doch dann schaute ich zu Boden, als sie vor mir stand –

Und meine Nachbarin hat süße Füße,
vielleicht die schönsten auf der Welt,
ich gäb ihr alles, was ich geben müßte,
und nicht nur das, was ihr grad fehlt.

CM & ER:

(Refr. auf la la la )

 

‘Meine Nachbarin’ © Musik: MM, Text: Achim Ballert, MM
© ‘Musen, Reiterinnen und Hyänen’: Manfred Maurenbrecher 1997