Wir suchten das Museo de la Alfabetización und gerieten in den Schulkomplex Ciudad Libertad. Am Rand des Strandbezirks Miramar gelegen, ein wenig erhöht und in der Nähe eines alten Militärflughafens, ist das ein grünes, weites Gelände mit Wohn – und Lernbungalows, Gemeinschaftseinrichtungen, Fußball – und Baseballfeldern, bevölkert von jungen Menschen, teils im Sportdress, teils in Schul – und Militäruniformen, teils ganz normal gekleidet. Alles gepflegt wie ein englischer Campus, durchzogen von öffentlichen Straßen, die sich an den Geländerändern dann wieder dem lässigeren, schmuddeligen Stadtbild angleichen.
Einer der Bungalows das Museum zur Alphabetisierungskampagne 1961. Ein Schild, ein Standbild im Vorgarten und ein dramatischer Fries am Gebäude weisen darauf hin – auf ihm wird einem etwas zerschunden aussehenden Landarbeiter ein Buch gereicht. Obwohl im Netz ‚geöffnet‘ gestanden hatte, war die gläserne Eingangstür zu – ‚natürlich‘ dachte ich nach unseren letztjährigen Erfahrungen mit Museen, die entweder gerade umgestaltet oder ausgerechnet heute mal außer der Reihe geschlossen hatten. Wir klopften trotzdem an der Tür, und eine junge Frau im offiziellen Arbeitsdress öffnete. „You got visitors“, sagte eine weibliche alte Stimme, ganz klar amerikanische Diktion, und wir wurden hereingebeten und fanden uns in einer Gruppe älterer pädagogik -, kultur – und wohl auch politikaffiner Kalifornierinnen (zwei Männer auch darunter), einem eher leisen Dolmetscher und einer vehementen alten Dame, der Maestra, Leiterin des Museums, wieder. Freundicherweise durften wir an der eben beginnenden Führung teilnehmen.
Was für eine Kampagne, erzählt von der alten Dame, die seinerzeit vielleicht ein zehnjähriges Kind gewesen war (ich schätze sie so alt wie mich). Fidel Castro, dessen Revolution gerade gesiegt hatte, verkündet 1960 in einer 4 stündigen Rede vor der Uno unter anderem, in einem Jahr werde es auf Cuba keine Analphabeten mehr geben. Das mokante Grinsen der Mehrheit der anwesenden Diplomaten sieht man automatisch vor sich. Ab Januar 61 wird auf der Insel vom Realschul-Kid bis zur gebildeten Hausfrau und dem pensionierten Lehrer alles rekrutiert, das im Prinzip Lesen und Schreiben beibringen kann. Ob diese so entstehende zweite, ‚neue Armee‘ sich ganz freiwillig gebildet hat, blieb in der Darstellung der alten Professorin widersprüchlich offen. In dieser Sprach-und Lesearmee sind jedenfalls die (meist jungen) Frauen in einer Überzahl von 52%. Linguisten und Pädagogen entwickeln ein Alphabetisierungsprogramm, das modellhaft wirkt und sich später sogar auf andere Länder und auch andere Sprachen als Spanisch übertragen lässt. Die Rekrutierten werden bis Ende März darin geschult, dann schwärmen sie aus aufs Land, wo die meisten Analphabeten zu finden sind – Landarbeiter, ehemalige Sklaven, die auch nach der Abschaffung der Sklaverei so unmündig gehalten worden sind, wie es nur geht, weil sich das als ganz praktisch bewährt hat.
Damit ist jetzt Schluss. Die jüngste Lehrerin ist zwölf, dIe älteste Schülerin 106 und in der eigenen Jugendzeit selbst noch Sklavin gewesen. 700.000 Menschen, ein Zehntel der cubanischen Bevölkerung, lernt in den neun Monaten der Kampagne Lesen und Schreiben. Anschließend öffnen die normalen Schulen wieder, und wer immer es schafft, kann sich weiter qualifizieren – Programme der Erwachsenbildung schließen sich für die Älteren an – bis heute, wie die Maestra betont, selbst in der ‚Spezialperiode‘ des Hungerns nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe man diese Programme nicht kaputtgehen lassen.
Für die jugendlichen Lehrerinnen und Lehrer, die ab April 61 tagsüber in der landwirtschaftlichen Produktion mithelfen und abends ihr grad eingeschultes Wissen auf die Landbevölkerung loslassen, muss dies gute halbe Jahr ein großes Abenteuer gewesen sein – so jedenfalls klingt es in den Erlebnisberichten, die eine amerikanische Journalistin seinerzeit in Interviews und Dokufilm-Aufnahmen eingefangen hat und die wir abschließend zu sehen kriegen. Ein popfestivalartiges Beisammensein in Havanna beendet die Alphabetisierungskampagne Ende 1961.
Die anschließende Diskussion mit den Kalifornierinnen bestand zum großen Teil in einem Hin und Her, ob denn auch messbare Leistungen gelehrt worden seien, ob der normale Schulbetrieb seinerzeit nicht gelitten habe, ob jener selbstgeschriebene ‚Brief an Fidel‘, der für alle Teilnehmer an der Kampagne als Abschlusszeugnis galt, nicht eher eine Farce war … Wir frieren unter der hart kühlenden Klimaanlage, die die Cubaner so genießen können wie die Kalifornier, aber uns bringt sie Husten und Schnupfen. Wir hätten die Professorin gern noch gefragt, ob der Idealismus seinerzeit, der aus ihren Worten und Gesten ja immer noch spricht und uns anspringt (und nicht wie eine Erinnerung allein), denn bei der neuen Generation, die sich da draußen auf den Fußballfeldern ausbilden lässt, überhaupt noch zu finden sei – wo im Lehrerberuf im Cuba der Jetztzeit so radikal viel weniger verdient wird als mit Taxifahren und Kellnern. Wir befürchteten, sie würde aggressiv und phrasenhaft darauf antworten.
Stattdessen fragte eine rotblusige Dame, die verkniffenste im sonst eher aufgeschlossenen Kreis, warum der Chefkommandant das denn überhaupt gemacht habe damals. Man verstand sie erst gar nicht. „Well, what did he do that for?“
Einen Augenblick dachte ich: die ist besonders listig. Vielleicht will sie ihre dann doch etwas sozialismusmisstrauischen Mitreisenden leise darauf stoßen, dass hier ein ‚Herrscher‘ sein Volk sich zu informieren, zu denken und zu entscheiden ermächtigte, es im Wortsinn befreite und bildete. Also das Gegenteil tat, was Herrscher sonst so tun. Keine Ahnung, wie sie’s gemeint hat, wir benutzten den Augenblick, um ins Warme zu fliehen.
Castrokritische werden bis heute natürlich sagen: Das hat der damals nur gemacht, damit die Leute seine Propagandaschriften auch lesen konnten, die zu lesen er sie dann zwang.
Und damit hat alles wieder seine Ordnung, wenigstens hier.