Menschen machen Fehler
Menschen machen Fehler – Unveröffentlicht
Neues Rom
Eins und zwei und drei und vier,
vom Ich zum Du, vom Ihr zum Wir.
Fünf und sechs und sieben, acht,
so ha’m wir den Sprung gemacht.
Elf und zwölf und dreizehn, vierzehn,
aus der Fülle unserer Herzen,
fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn,
jetzt zurückzugeh’n wär Schwachsinn.
Achte, neune, zehne, elfe,
weder Lämmer sein noch Wölfe,
fünfund-, sechsund-, siebenundfünfzig,
gleicher werden klingt vernünftig.
Keine Angst vor’m Verschenken,
keine Angst vor dem Schwimmen im Strom,
an den Bettler, der sein Hemd gab, will ich denken –
das war der erste Tag, das war der erste Tag
von unser’m neuen Rom.
Fünf und sechs und sieben, acht,
spring die Wand an, bis sie kracht.
Eins und zwei und drei und vier,
vom Ich zum Du, vom Ihr zum Wir.
Das System verlief im Nebel,
keiner fand noch einen Hebel,
Zahlungsmittel war die Schuld,
Rechtbehalten wurde Kult.
Als uns ohne Ende kalt war,
sah’n wir schnell, was faul und alt war
an dem Leben wie bisher,
und wir mochten es nicht mehr.
Ohne Stress und größ’re Qualen
fanden wir den Spaß an Zahlen,
ohne Druck und schlaues Feilen:
Mehrheit sein und Mut, zu teilen.
Fünf wird Zwanzig, Neun war Drei:
Zauberei war nicht dabei.
Eins und zwei und drei und vier,
Vom Ich zum Du, vom Ihr zum Wir.
Keine Angst vor’m Verschenken,
keine Angst vor dem Schwimmen im Strom,
an den Bettler, der sein Hemd gab, will ich denken –
das war der erste Tag, das war der erste Tag
von unser’m neuen Rom.
Unterschiede, alter Scherz,
gleichen Schwung in jedes Herz.
Vier und drei und zwei und eins:
//: Meins ist deins und deins ist meins ://.
Musik
Ein Sommernachtsgespräch:
Wie war’s vor fünfzig Jahren,
in jener anderen Zeit,
als wir am Startpunkt waren?
Der Blick versperrt und schräg,
der Weg so gar nicht klar,
doch diese harte Welt, sie nahm uns
manchmal dahin mit,
wo die Musik damals war.
Und was Musik damals war.
Sie blieb so oft geheim:
Piratenradioschiffe,
Baumwollpflückerblues,
Rebellenchor und Elektronikriffe.
Das Tolle hielt sich fern,
die Läden waren rar.
Man musste selbst entdecken geh’n,
was wild, was fremd, was nah –
was die Musik damals war.
Wie die Musik einmal war.
Heut bringt sie sich zu Fall,
man braucht, es zu begreifen:
Musik ist überall,
in Klos und Warteschleifen,
im Stream, im Netz, ein Schall
wie Dreck auf dem Trottoir,
und überall ist nirgends,
und am schaurigsten, wenn sie so tut,
als wär’ sie trotzdem echt und wahr.
Wie die Musik niemals war.
Ein Klick, schon hast du hundert Millionen Songs,
kriegst die irresten Sinfonien für lau, wenn eingebongt,
streamst ganze Orchester an den Subventionentropf –
du willst im Ernst noch Geiger werden? Schlag dir den Unsinn aus dem Kopf!
Du überschaust hier ein Gelände, das in jeder Sekunde wächst,
wozu CDs und Filme? Ein Datenstrom, sonst nix.
Du hast hier das Modell vor dir von einer wüst befreiten Welt,
befreit von allen Bremsen: Bindung, Fairness, Geld …
Rhythmus und weicher Klang
an einem Laptop ausgedacht
als Schutz gegen das Chaos,
Frucht dieser schönen Sommernacht,
von einem jungen Paar
auf dem Balkon nebenan,
man sieht, sie mögen sich –
und irgendwann,
vielleicht in fünfzig Jahren
ziehen sie dann dies g’rad entstandene Stück
aus dem Riesen-Speicher,
der dann vielleicht schon der Unesco gehört,
und fragen:
Spürst du’s?
Spürst du’s so wie ich?
Wie die Musik damals war,
unsere Musik einmal war?
Viel echter als all das heutige Gedudel, oder?
Viel mehr wir selbst.
Musik überlebt eben einfach alles.
Sogar die Taliban. Sogar noch Spotify.
Hey, und da kommt eben ein Abruf:
Jemand will unser uraltes Stück hören!
Genau jetzt – nach 50 Jahren, ist das nicht toll?
Musik!
Kriegste einfach nicht tot …
Mo Mi Do
Der Meister will sie haben,
die Zeugnisse sind topp,
er braucht so jemand dringend,
weil der Betrieb sonst floppt.
Sie könnte morgen anfangen
als Vollzeit-Elektrikerin –
doch sie schiebt den Vertrag zurück,
und lächelnd sagt sie ihm:
„Dienstag mach ich Yoga,
am Freitag will ich frei,
klingt komisch, doch den Rest der Zeit
wär ich dann voll dabei – und zwar
Mo Mi Do – Montag, Mittwoch, Donnerstag,
Mo Mi Do – weil ich die Arbeit eigentlich mag,
Mo Mi Do – ich mein’ das nicht als Vorschlag,
Mo Mi Do – sonst weg mit dem Vertrag.
Mo Mi Do – meine Legit-Chance auf eine Lebens- und Arbeitszeit – Balance.“
Der Meister will’s nicht glauben,
er schmeißt sie erst mal raus,
doch ärgerlich, was er am Tisch
dann abends hört zu Haus:
‚Das is’ne echte Welle,
Fachkräfte fehl’n wie nie, hörst du keine Nachrichten?
Du dachtest, das wär nur’n Lieferengpass?
Das ist Philosophie!’:
Mo Mi Do – Montag, Mittwoch, Donnerstag,
Mo Mi Do – jenseits vom Tarifvertrag,
Mo Mi Do – radikal und über’n Berg,
Mo Mi Do – generation fun and work.
Sie wahren ihre Psyche
in dieser irren Zeit,
und viele blöde Sprüche
führ’n zur Gelassenheit.
Sie hören auf zu rechnen,
was man vielleicht mal kriegt,
wenn man wie all die andern
sich krumm und dämlich biegt.
Der Meister hängt ein Schild raus
in seinem Internet,
„Betrieb ab jetzt halbiert“, steht da,
„seelenhalber“ – mal sehen, was passiert.
Denn montags macht er Wellness,
am Mittwoch ist er froh,
dass es mal nichts zu tun gibt, und am Donnerstag
spielt er mit den alten Kumpels Skat und Domino.
Mo Mi Do – letzte echte challenge
Mo Mi Do – weltweite work-life – balance
//: Mo Mi Do :// //: Di Frei Sa So ://
Litfaßsäule
Wer dich erfunden hat, musste gemütlich sein,
rund und verträglich sein, ein Freund der Nachbarschaft,
dacht’ ich als Kind.
Schon, dass er Litfaß hieß und uns dich nutzen ließ,
du dicke Säule, auf der all das stand,
was unsere Neugier stach,
weil wir so sind –
Oma suchte Filme mit Ruth Leuwerik,
Opa fand den Tanztee im Kempinski schick,
für Mama war der Tag der Offenen Gärten da,
Papa traf Carl Orff in der Urania,
und all das hatten wir von den Plakaten,
um deinen runden Leib geklebt, Namen und Daten,
ein bisschen Werbung zwischendrin, leise und bunt,
unsere Litfaßsäule, der dezente Informant –
jedes Ding hat seine Stunde,
jede Erfindung auf der Welt dreht ihre Runde.
Lange sah ich dich als Teil Erwachsenenwelt,
nichts wirklich Heißes, nichts, was, wenn es wegfällt, fehlt,
doch irgendwann auf dir war ein Plakat der Kinks,
da dachte ich zum ersten Mal: Das ist auch meins, dies Dings,
dies runde Etwas, Werbeobelisk getauft,
und dachte gleichzeitig: Die Kinks auf einer Litfaßsäule?
Jetzt ha’m sie sich verkauft.
Irgendwann bei dir gab’s einen Vorabendkuss,
Riesenriesenrad im Bauch, dann gleich schon wieder Schluss,
da stand ich neben dir allein, Kassettenspieler laut wie’n Schock,
’ne Bravo cool im Hosenbund, Tretroller aufgebockt –
hätt’ mich damals wer gefragt,
was von den Dingen denn noch da sein würd’ in 60 Jahren,
hätt’ ich gesagt: die Säule und das Deck bestimmt, die Illustrierte höchstwahrscheinlich –
nur so’n Roller: wird später irgendwer sowas noch fahren?
Jedes Ding hat seine Stunde,
jede Erfindung auf der Welt dreht ihre Runde.
Manche auch zwei.
Dann ist etwas weniger Abschiedsschmerz dabei.
Ich wünsch dir gute Zeiten in dem Dingehimmel,
grüß mir das ganze tolle Zeugs im Nostalgiegewimmel,
Wählscheibentelefone, Löschblätter,
btx-Modems, die Kutschen und die Gäule,
du alte schlanke oder dicke, immer elegante,
einst topaktuelle, dunkle oder helle,
ökologisch voll korrekte, immer schicke Litfaßsäule.
Menschen machen Fehler
An den Ufern des Euphrat,
in der Senke zum Fluss
im Schritttempo durch eine Sommerfurt
quält sich ein einsamer Bus.
Nebenan eine Brücke,
betoniert, im Stand einwandfrei,
doch die Auffahrten von beiden Ufern her
klaffen Meter aneinander vorbei.
Menschen machen Fehler,
es kann nicht anders sein,
sie gehen mit ihren Fehlern
weit in das Dunkel rein,
kommen etwas heller wieder raus.
Wenn überhaupt.
Er war 25
auf dieser Reise durch die Türkei,
suchend klein, ziemlich glücklich allein,
jeden Tag war ihm etwas neu.
Per Tramp zurück von Istanbul
mit Dianne und mit 15 Mark,
sie spielten ein Paar,
was dem LKW-Fahrer nur noch anturnender war,
und sie dachten, zu zweit ist man stark.
Menschen machen Fehler,
es kann nicht anders sein,
sie gehen mit ihren Fehlern
weit in das Dunkel rein,
kommen etwas heller wieder raus.
Manchmal jedenfalls.
Er sah sie später oft vor dem inneren Auge, diese Brücke am Euphrat mit den sich verfehlenden Auffahrten. Er brauchte kein Foto dafür. Manchmal sah er sogar den armen Ingenieur, der sich da verrechnet hatte. Er wusste, nichts auf dieser Erde würde perfekt sein, keine Arbeit, kein Ideal, keine Revolution, keine Liebe. Dieses schöne Denkmal des Scheiterns beflügelte ihn, nicht gleich ins Dumpfe zurückzufallen, in den Trott der Jahrtausende.
Die erste Eisenbahnlinie Deutschlands
verkehrte zwischen Nürnberg und Fürth.
Kurz darauf plante man in der Oberpfalz
eine Strecke, die 25% Steigung mitführt.
Der Ingenieur, der das Ganze erdacht hat,
kam am Vorabend der Eröffnung schlimm drauf,
er sah den Zug rückwärts roll’n, die Waggons querbeet fall’n,
und er hängte sich in der Nacht auf.
Am nächsten Morgen die Jungfernfahrt,
die Lok, sie keuchte wohl hart,
doch mit Schwung fuhr sie dann
die Höhe hinauf …
Menschen machen Fehler,
es kann nicht anders sein,
sie gehen mit ihren Fehlern
weit in das Dunkel rein
und kommen heller wieder raus.
So soll es sein!
Menschen machen Fehler.
Frieden im Krieg
Frieder kann nicht länger Pazifist sein,
die Welt ist ihm schwarzweiß und nicht mehr licht.
„Was diesen Krieg beenden wird, das kann nur eine List sein“,
weiß Amalia, nur welche, weiß sie nicht.
Alice riecht die Angst vor dem Atomschlag,
siebzig Jahre westwärts und jetzt das,
Anton stolpert über das Wort Sturm-Flak,
Roberts Haupthaar ist vor Mühe nass.
Alle leuchten in das Dunkel rein,
und mit jedem Leuchten wird es dunkler sein
in diesem Frieden in dem Krieg,
so nah dran und weg im gleichen Augenblick.
Treffen sich zwei Deserteure an der Grenze,
glauben beide, dass der andere lügt.
Marie Agnes pusht und pusht zur Freiheit,
macht mit jedem Waffenverkauf ein Plus,
Sahra überwindet ihre Scheuheit
und gibt zu, dass sie den Teufel lieben muss.
Von weiter weg ein Pulk Okkupations-Versteher:
„Der Westen aber auch, die Nato sowieso.“
Nebendran der Club der Völkerrechtsverdreher,
sie spülten es vor Jahren schon ins Klo.
Alle fragen: Muss es denn so dunkel sein,
und mit jeder Frage kommt mehr Dunkel rein
in diesen Frieden in dem Krieg,
näher dran und weiter weg im gleichen Augenblick.
Steh’n zwei verwandte Seelen an der Grenze,
bricht die eine schnell der ander’n das Genick.
Andere Länder, andere Kulissen,
anderes Schlachten, und es findet dauernd statt,
ist nur so nah uns nicht, wie könnten wir vergessen,
dass in Kiew leben Nachbarschaft zu Rom und Hamburg hat?
Propagandafetzen flitzen durch den Äther,
wer Gedanken hat, liefert den falschen Sound.
Wenn’s um Zerstörung geht, ha’m wir jetzt doch einen Täter,
von allen ander’n wird auf weiteres nur geraunt –
oder gleich Gas gekauft, es dunkelt ja so sehr,
da muss nun dringend eine neue Funzel her
für unser’n Frieden in dem Krieg,
der tobt sich leer und voll im gleichen Augenblick.
Helfen sich zwei Fliehende über’s Minenfeld,
denken beide: Und wo bleibt der Trick?
Endlosstreckenlang zerstörtes Leben,
Märchen des Aggressors wie ein Hohn.
„Man muss helfen, doch ein happy end wird es nicht geben“,
weiß Amalia und rät zur Kapitulation.
Und auch Frieder ist längst wieder Pazifist,
weil dieser Pazifismus irgendwie so wie Zuhaussein ist.
Nur die Ungewissheit wirft ihr kleines Licht
auf die Kämpfenden, denen ihr Land zerbricht.
Aufgetürmt der Feind zum Überstehen
vor der Brücke zum Darübergehen
in einen Frieden ohne Krieg.
In einen neuen, fremden Augenblick. Genannt auch Sieg.
Stehen zwei sich schwerbewaffnet gegenüber.
Tun sich nichts.
Schauen sich nur unsicher in ihre Augen.
Und dann fragen beide: „Sind wir jetzt verrückt?“
Der Zug
Ich wäre so gerne ein Zug,
ein Zug, der fährt hin und her,
kein Ort, den ein Zug so sehr mag
wie das Fahren und den Verkehr.
Von der köllnischen Heide in die märkische Schweiz,
von der sächsischen Schweiz in die fränkische Schweiz,
über Weichen und Schwellen, ein Zug ist nicht frei,
doch sieht Fenster für Fenster die Städte vorbei,
und das Land, wenn es dunkel wird, das ist der Reiz.
Ich wäre so gerne ein Zug,
ich glaub, ein Zug wär genug,
denn sein Gleis, das ist das, was er mag,
und wer mag, was ihn trägt, der ist klug.
Zwischen Domen und Schloten und Oder und Rhein,
mit den fliehenden Kindern und dem Fahndungsverein,
er fährt jeden und bringt sie und läßt sie in Ruh,
sieht die Massen Gepäck und den Abschieden zu,
und den Schwarzfahrer auch, komm doch rein.
Ich wäre am liebsten ein Zug,
wenn er losfährt, dann macht’s einen Ruck,
und dann stopp einmal seine Fahrt,
leg dich drunter: Es ist ziemlich hart.
Es gibt Orte, da würd’ er gern länger sein,
und er denkt vielleicht: Steigt doch langsamer ein,
und vielleicht kommt sein Herz dann in Wut –
doch dem Fahrplan nach: Alles ist gut.
Ich wäre am liebsten ein Zug,
ich glaub, ein Zug wär genug …
Ich weiß nicht, ob du das verstehst –
ich hab dir im Schlaf zugeguckt
und dachte dann: Falls du mal gehst,
dann wär ich am liebsten dein Zug.
Wann seid ihr frei?
Was dein Spiegel zeigt:
Du neigst den Kopf, die langen Haare häng’n herab,
du bürstest sie ein letztes Mal, dann schneidest du sie einfach ab,
das ist die kühne Tat.
Es gibt nur eine hier, die über dich entscheidet,
es gibt nur eine hier, die sagt, wie du dich kleidest.
Tausende wie Du haben das Tuch verbrannt,
Tausende wie Du sind losgerannt,
wir sehen euch zu, wir stehen dabei,
wann seid ihr frei?
Auf dem Film zu seh’n:
Sorglos spaziert der Mullah mit dem Turban auf durch seine Stadt,
sieht so aus, als wenn er jedermann hier kennt und keine Feinde hat,
er schaut nicht hinter sich,
die, die da gerannt kommt, zögert kein’ Moment vor Übermut,
die Haare frei, beim Überholen schlägt sie ihm den Turban weg,
der Schlag saß gut –
und schon rennst du los, für ein bess’res Land,
so wie du sind Tausende von euch gerannt,
wir seh’n es auf dem Film, wir stehen dabei,
wann seid ihr frei?
Vorm Gefängnistor:
Deine Brüder, deine Schwestern woll’n erfahr’n, was mit dir ist,
seit dem letzten Polizeieinsatz wirst du vermisst.
Was passiert da drin?
Schlägt man dich, bist du am Leben?
Geschieht es dir wie Massa Ameni, wird jemand Antwort geben?
Tausende wie Du sind weiter fortgerannt,
zurückgeschleudert immer vor der meterdicken Wand,
Tausende mit fast vergess’ner Kraft,
wir steh’n dabei –
wann seid ihr frei?
Mit dem Tod von Massa Ameni fing’s an,
weil auf Dauer unsichtbar kein Weg sein kann,
“Frauen, Leben, Freiheit”, dieser laute Ruf
ist uralte Weisheit und auch das, was grad die Stunde schuf.
Tausende dabei, ihr Leben umzubau’n,
mehr, als all wir andern auf der Welt uns gerade trau’n,
mehr als all die alten Clans es fassen,
die mit ihrer Macht nichts andres dürfen als zu hassen.
So in eurem Kampf ist unser Wunsch dabei:
Wann seid ihr frei?
Küster und Näherin
Der Küster mit den zwei Gipsverbänden
schleppt seinen Einkauf durch Regen und Sturm.
Ein Baguett in den gebrochenen Armen,
bringt er es heil in seine Wohnung im Turm?
Das sind so Anfänge, helfen die weiter?
Die Zettel liegen auf der Ablage rum,
wie es die Sonnenbader an einem windigen See tun,
ein bisschen fröstelig, unrund und stumm.
Die Näherin schaut aus dem 5.Stock auf die Straße
und denkt: Besser wär’ vielleicht nur ein Glockenturm.
Sie verlässt ihre Wohnung zum ersten Mal seit acht Wochen,
draußen dann noch dieser heftige Sturm.
Das sind so Notizen, wohin wandern die weiter?
Ein Zettel mehr auf die Ablage drauf,
noch so ein Sonnenbader am schilfigen Wasser
mit einem schaukelnden Bötchen darauf.
Der Küster am Boden, eine Fremde, die rempelt,
fragt nach dem Schlüssel vom Turm, fragt es nett.
Er sagt: „Ich kann meine Arme gerade gar nicht gebrauchen,
greifen Sie in meine Hose, Vorsicht mit dem Baguett!“
Das Boot nimmt Kurs auf, Wüstenstaub treibt das Wasser,
Notizen flattern zum Fenster raus.
Nachher füttern sie sich beide mit Weißbrot,
und die Näherin lacht: „Ja, so hält man es aus.“
Ja, so hält man es aus.
Wahn
Manche sagen ja, die Welt ist rund,
und 500 Gramm, die sind ein Pfund,
und wenn du auf ein Versteck aus bist,
reicht es nicht, dass du die Augen schließt.
Manche sagen dies und andere das,
hör mir zu, denn jetzt sag ich dir was:
Lass mir meins, dann greif ich dich nicht an,
wir brauchen alle unser’n kleinen Wahn.
Du darfst mich ruhig was fragen,
wir sind ja ein freies Land,
du darfst auch deinen Maulkorb wo du willst in unser’m Städtchen tragen –
wir sind da tolerant!
Siehst du drüben den Musikzug ziehen?
Alles Leute, die auf Heimat stehen,
sich nicht brechen lassen im Genick
oder gar stechen lassen mit dem Impfbesteck.
Prächtig zieht der kleine Zug voran –
typisch: Du schaust nur die andern an,
die sich grad die Polizei vornimmt,
die Systemlinge in ihrem Wahn.
Da brauchst du gar nicht so glotzen,
die Sitten hier sind dir fremd,
wenn ich das Wort Demokratie nur höre, muss ich kotzen,
so verlogen, wie hier alles klemmt!
Weißt du denn, woher das Virus war?
Erstmal China, danach Afrika.
Weißt du, wohin Klimawandel führt?
Dass das schwarze Volk hier leben wird.
Anstatt Dresdener Stollen Affenbrot,
steht im Weltelitenplan in Rot.
Ich weiß, du siehst das etwas anders an:
Wir brauchen alle unsern kleinen Wahn!
Manche sagen ja, die Welt ist rund,
und 500 Gramm, die sind ein Pfund –
vielleicht bringt so viel Klarheit Sinn,
doch sie passt halt in die Zeit nicht hin!
Meine Ex auf Intensivstation, die lacht:
Du Ungeimpfter, dich erwart ich schon.
Und ich frage sie: Du hilfst mir dann?
Sie sagt: Dir lass dir deinen kleinen Wahn.
Wir brauchen alle diesen kleinen Wahn.
Es geht nicht anders.
Alle unser’n Wahn.
Du deins, ich meins. Wer will denn sagen, wer Recht hat? Und außerdem: Von einer anderen Warte her gesehen, von einer höheren Warte her gesehen, ja, spirituell gesehen ist sowieso alles Eins. Ja, da staunst du, hast dir jetzt ein Bild von mir gemacht, und jetzt komm ich so um die Ecke … Sprirituell gesehen, mein Lieber, geht auch so, tja: Links und rechts, heiß und kalt, Gestern und Heute, Yin und Yang, Lolek und Bolek – all diese Gegensätze, und Gott die Große Null in der Mitte, spirituell gesehen, hat nichts zu melden, aber wir alle um ihn rum, jeder mit seinen Ansichten. Alles ein Riesenwahn, und mehr ist da nicht.
Hallo?
Rundumschlag
Geh einfach weiter,
schau weg und stör dich nicht
der LKW treibt mit der Radlerin nur Scherz.
Bleib kühl und heiter
in diesem Abendlicht,
die Richtung deines Weges kennt dein Herz.
Chaos wird wachsen,
Gedanken wirr wie Heu,
ich weiß, das ist dir peinlich,
doch du siehst die Welt heut neu.
Schau da, der Rentner,
der in der Tonne wühlt,
das is’n Lifestyle-Linker,
der nur spielen will, wie man als Armer fühlt.
Die alten Kumpels
aus der Revoltezeit,
die stehen jetzt regelorientiert beim Kanzleramt,
während ordnungsgeile
Kampfschreiber-Herrlichkeit
so tut, als wär die Freiheit in den Untergrund gerammt.
Wer alte Fronten sucht,
verpasst das Wahre,
so wie der, der nur mit Karte zahlt,
der verpasst das Bare.
Schau da, der Mietrebell,
ein Leben lang nur immer abgelinkt,
führt eine Schwarze zum Altar,
die eine Riesenvilla in die Ehe bringt.
Worauf noch warten,
wozu fehlt Mut?
Die Welt ist ein in Not geratener Garten,
und jedes Ja tut gut.
Tagesschau-Sprecherin
sagt ein AußenministerInnen-Treffen an,
kriegt für diesen Job ein Viertel weniger als ein Mann.
Fliegt heut dafür nach London
für eine Podcast-Dokumentation
über Julian Assange,
mit dem man g’rad noch ein paar Tage plaudern kann.
Ignoranz und Kälte:
Wie lang sind diese beiden schon
auf die globale Hitze
die mediale Reaktion?
Schau da, der Nackte,
der mit ’ner Kinderpuppe
auf den Holztisch drischt –
war mal’n Kurienkardinal,
ich glaub, den hat es echt erwischt.
Worauf noch warten,
braucht es einen Zweck?
Da wäre der in Brand geratene Garten,
über alle Grenzen weg.
Vier Wochen später,
der Unfall mit dem LKW ist abgeklärt,
der Fahrer zahlt 2000 € Ordnungsgeld.
Die Radlerin im Baumgrab,
jetzt als Umweltkämpferin verehrt,
selbst ihrer Lieferfirma gilt sie als ein Held.
Eins möchte ich noch sagen
mit den Gedanken wirr wie Heu:
Kann sein, der ganze Irrsinn
macht diese Welt erst frei.
Wenn dir also wer erzähl’n will,
alles sei sinn- und aussichtslos,
dann lächle nur und nimm’s als einen Scherz.
Geh einfach weiter
und dann lauf los –
die Richtung deines Weges kennt dein Herz.
Am Fluss
Da, wo wir stehen,
ist unser Fluss,
durch den wir gehen,
hier gab’s den ersten Kuss,
beim Schwimmen abgeholt,
das Wasser tief,
wo wir jetzt stehen, das war die Stelle,
wo der Nix uns rief.
Wir leben hier
mit Mensch und Tier,
sehen wir den Weg hier her,
sagen wir Ja dafür.
Doch halt mich fest
an unserm Fluss,
ich sing für dich
und hab es nie gemusst.
Ein Rinnsaal noch,
die Fische fort,
war’s ein Versehen,
oder doch Mord?
Der Morgenstreif
am Himmel tief,
wo wir jetzt sind, die Stelle,
wo der Abgrund rief.
Wir leben hier
mit Mensch und Tier,
wollten oft fort
durch uns’re offene Tür.
Zurück, zurück,
komm an den Fluss,
ich sing für dich
und hab es nie gemusst.
Wir leben hier
mit Mensch und Tier,
sehen wir den Weg voraus,
sagen wir: Da nicht für.
Doch halt du mich
an diesem Fluss –
ich sing für dich.
Isso
2020 ist die Zahl von dem Jahr,
in dem so lau wie nie vorher ein Januar war,
als Hans Grete fragte: „Mädchen sag’s, dass ich’s weiß,
liebst du mich oder fällt grad in China ein Sack Reis?“
Und während sie lispelnd hauchte: „Hans, ja er fällt“,
kam eine ganz leichte Trübung in die Welt,
etwas sehr Weites, das man erst gar nicht spürt,
so wie es heißt,
dass der Flügelschlag eines Schmetterlings zum Erdbeben führt.
Man las von Toten in Haufen in einem 11-Millionen – Slum,
weit weg und fremd, nie von gehört – na, sowas haut uns nicht um,
bis eine leise Geschäftsfrau auf dem Flughafen Franz-Josef-Strauß
niesend im Zubringerbus aus dem Jet Peking-Singapur-München heraus
diese Kette dabei hat, aus Ansteckungsgefahr,
und die blieb unter uns wie ein Dieb, noch eine Zeit unsichtbar –
aber drang dann in alles,
gründlich und roh,
und alles war anders.
Isso.
Man weiß nicht, wer’s hat, und wer’s hat, weiß es selbst oft nicht,
man macht um alles einen Bogen und schaut sich kaum mehr ins Gesicht.
Es gibt tausend Begrüßungen, tausend Abwehren, eleganteste moves,
voran die Kurzzeitphilosophen mit ihren Kurzzeitphilosophen-Grooves,
es gibt die Frühwarn-Offiziere mit dem aseptischen Licht,
die begeistert schrei’n: Keinen Meter vom Fleck weg,
auseinander, rührt euch nicht!
Gibt die Romantisierer, Endzeit-Glücksboten,
die in industriefreier Luft um das Industrie-Ende beten –
ich dachte: Drei Wochen, dann ist der Spuk wieder vorbei,
die erfinden einen Impfstoff, und wir sind bald wieder frei.
Doch Mathematiker tanzten das Vervielfältigen vor
der Todkranken, man sah es im Fernsehen,
man kam sich selbst unfassbar peinlich vor,
wenn man dachte: Okay, ich seh die Leichenbilder –
überzeugt, ich mach alles mit,
aber habt euch nicht so, Hand aufs Herz, ehrlich gesagt:
das ist doch immer noch ein Spiel hier,
wir sind doch eigentlich alle fit?
Es gab da ein seltsames Zerren der Vernunft:
Wissen schafft Klarheit, sagt die Übereinkunft,
doch wurde den Weg in den Lockdown rein klar,
dass das Irren und Lernen der Wissenschaft jetzt selbst der Weg war,
und die Verwirrung drang in alles,
gründlich und roh,
und alles wird anders.
Isso.
Das dauert jetzt Jahre, sagen manche stolz zerfurcht,
während andre fleh’n: Keinen Monat hält mein Geschäft und ich, halten wir das noch durch.
Machtgeile Potentaten ziehen ihre glänzendsten Karten,
während Pragmatiker locken: Vergesst die Alten,
und dann lass wieder durchstarten,
instinktiv rückt man näher, die Grenzen am liebsten ganz dicht,
und dann aber wieder auf Abstand, so richtig dicht eben doch nicht.
Giftmischerhirne mixen sich ihren überlegensten Feind:
Silicon Valley, jüdische Eastcost,
Bill Gates und die Päderasten-Weltelite vereint.
Nebenbei, in Amerika wird ein 17-minütiges Lied Nr.1,
wie verzweifelt müssen die Leute sein
in einem Land durchseucht wie keins?
Wo pure Armut herrscht, hilft das Virus da, unsere Mitverantwortung zu verlieren?
„Sorry, die Frage geht zu weit,wir müssen uns voll auf uns selbst konzentrieren.“
Während die ängstlich Vernünftigen in ihre Einsamkeit reisen,
stehen maskenlose Massen auf Demos, und alle Bindungen reißen –
es treibt auseinander – was nun?
Gotthilf Fischer – du wirst dringend gebraucht,
was einmal dein Chor war, ist heute zerstritten, zerstaucht.
Dabei möchten eigentlich alle das Richtige tun
und sitzen herum wie auf Kohlen,
es braucht einen breiten gemeinsamen Arsch,
um uns – wie sagt man so gern? – da, wo wir sind,
nochmal abzuholen:
Also sing mit den Zweiflern, sing mit den Verbissenen,
gib einem jeden die Stimm’ mit,
sing mit den Hassern und mit den Zerriss’nen, bring uns an unser Limit –
sing Heißer Sand und ein verlorenes Land, sing Die Kuh macht Muh,
sing Lilli Marleen, Bei mir biste scheen und Hello Mary Lou,
sing Die Tür macht auf, die Tor macht weit, Vom Himmel hoch, da komm ich her,
sing Der Haifisch, der hat Zähne, Zogen einst fünf wilde Schwäne und Wenn ich König von Deutschland wär,
sing die Weihnachtsbäckerei und Die Gedanken sind frei, sing Morgen muss ich von hier fort,
Frag den Abendwind, wo das Glück beginnt, sing für Hans und Grete Liebe ist nur ein Wort.
Sing Jeden Morgen geht die Sonne auf, sing von den Schiffen, die sanken,
sing vom Werkzeug der Maschine, von der Biene Maja und Wahre Freundschaft soll nicht wanken.
Sing am Fenster, sing den Blues in Rot, sing vom Erwachen der Macht,
sing vom Apfeltraum, vom Kleinen Apfelbaum und Ich bring dich durch die Nacht.
Sing der Kanzlerin von der Tänzerin, sing dem Todes-Präsidenten den Tod,
sing Kleine Taschenlampe brenn und Lied für die, für die ich sing, sing von der Dame in Rot.
Jenseits des Tales standen unsre Zelte, und Deine Sehnsucht, sie brennt lichterloh –
sing vom Lindenbaum, sing Da war noch ein Traum,
und dann sing mit uns allen, sing dies ISSO.
Es isso.
Alles wird anders. Es isso.
Dieses Jahr
Vorübergehend geschlossen,
ein Pappschild, die Schrift fast verbleicht.
Hier hat man sich früher ’nen Kaffee gegönnt,
noch im Herbst, man vergisst das so leicht.
Das Caféteam schrieb da voller Hoffnung:
‚Bleibt aufrecht‘, und ‚wir sehen uns dann‘.
Ich seh, wie der Regen die Worte verwischt
und glaub jeden Tag weniger dran…
Dieses Jahr, ein Grundkurs im Abschied,
dieses Jahr hat Rekorde ein paar,
dieses Jahr ist der Anlass für dies Abschiedslied:
Weil’s so war, wie es war, wie es war.
Dieses Jahr, ein Test für’s Erinnern,
dieses Jahr mit verdammt wenig Trost,
dieses Jahr, wenn’s dann wirklich zu Ende sein wird:
Lasst es los, lasst es los, lasst es los!
Es gab sie am jedem Kiosk,
ein Heft lag in jeder WG,
wenn man rausfinden wollte, was uncool ist,
und was geht, es stand in der zitty.
Und zwar seit Generationen,
das Aktuellste, gemeißelt in Stein –
man sagt, die Pleite hatte nichts mit dem Coronajahr zu tun,
aber irgendwie passt sie dort rein…
Dieses Jahr, ein Grundkurs im Abschied,
dieses Jahr hat Rekorde ein paar,
dieses Jahr ist der Anlass für dies Abschiedslied:
Weil’s so war, wie es war, wie es war.
Dieses Jahr, ein Test für’s Erinnern,
dieses Jahr mit verdammt wenig Trost,
dieses Jahr, wenn’s dann wirklich zu Ende sein wird:
Lasst es los, lasst es los, lasst es los!
Ringsherum die wackeren kleinen Firmen,
die Verlage und die Brauereien,
wenn irgendwann das staatliche Notgeld wegfällt,
wer von denen kriegt sich dann noch ein?
Sie war eine Schicke und Flotte
aus dem Haus gegenüber,
wir nannten es ihren Partybalkon
und schielten ganz gern mal da rüber.
Sie sagte, sie trägt grundsätzlich keine Masken,
hielt all die Maßnahmen für überspannt,
vielleicht sogar den Nachbarn, der den Notarztwagen rief,
als er sie im Fieber fand.
Dieses Jahr, ein Test für’s Erinnern,
dieses Jahr mit verdammt wenig Trost,
dieses Jahr, wenn’s dann wirklich zu Ende sein wird:
Lasst es los, lasst es los, lasst es los!
Wenn ihr das bis hierher gehört habt,
und ganz egal, wo ihr grad seid,
wir sind nicht in Kontakt von Angesicht zu Angesicht
wie in der vorigen Zeit.
Ihr sollt das bitte nicht vergessen,
ihr erinnert euch schon:
Musik ist so viel mehr als ein Klingklang vom Bildschirm
oder aus dem Telefon.
Dieses Lied macht sich Reime auf Abschied,
dieses Lied sieht am Ende ganz klar,
dieses Lied hat zum Anlass ein schiefgelauf’nes Jahr,
das so war, wie es war, wie es war.
Dieses Lied ist ein Test für’s Erinnern,
dieses Lied mit dem einzigen Trost:
wenn das alte Jahr jetzt gleich zu Ende sein wird,
nehmt dies Lied für das Neue – und los!
Mutter der Musen
(Mother of Muses – unautorisiert)
Mutter der Musen, sing mir vor,
sing von den Bergen, dem tiefblauen Meer,
sing von den Seen, den Nymphen im Wald,
von Herzen, ihr Chorfrauen, singt, dass es schallt
von Ruhm und Ehre, der Kraft empor,
Mutter der Musen, sing mir vor.
Mutter der Musen, sing für mein Herz,
für eine Liebe, zu früh verscherzt,
sing von einsamen Helden, zur Tat allein,
die Namen geritzt in Tafeln aus Stein,
schmerzhafter Kampf, bis die Welt freier war.
Mutter der Musen, sing vor, was war.
Sing von Sherman, Montgomery und Scott,
sing von Shukow und Patton, der großen Schlacht,
sie schlugen den Pfad frei, dass Presley singt,
sie schlugen den Pfad für Martin Luther King,
sie taten ihr Werk, und fort war’n sie schon –
oh Mann, Tag und Nacht könnt’ ich erzählen davon.
Neuerdings lieb ich Kalliope sehr,
sie gehört doch zu niemand – warum dann nicht zu mir?
Sie redet mit mir schon, mit den Augen sie blinzt –
ach, es macht mich so müde, das Lügengespinst -,
Mutter der Musen, wo immer du bist:
mein Leben von mir ausgelebt worden ist.
Mutter der Musen, lass los den Zorn,
da sind Dinge, die sperr’n mir den Weg nach vorn,
zeig deine Weisheit, sag, was wird gescheh’n,
halte mich aufrecht, lass gerade mich gehen,
treib meine Identität von innen hervor –
du weißt, was ich mein, mein Wort in dein Ohr.
Nimm mich mit an den Fluss, versprüh deinen Charme,
bette mich fest in deinen süß liebenden Arm,
rüttle und schüttle mich, von Sünde entbind’,
lass mich unsichtbar sein wie den Wind.
Ich hab ein Herz zum Wandern, zum Getriebensein –
bin im Reisen ganz leicht, doch allmählich komm ich heim.
Der Kick
Schau, was das machen kann:
Es fasst dich ganz leicht an
und klebt dann an dir fest,
es dich nicht los mehr lässt.
Schau was das machen kann,
manchmal fängt Glück so an,
doch oft genug ist dieses Glück nichts als ein kleiner Kick
am Weg zum Untergang.
Am schönsten vielleicht in der Liebe – als Blitz kam ein erster Blick,
Zwei wünschen, dass nichts weiter bliebe als sie beide in einem Stück.
Schau, was das machen kann:
Es fasst dich ganz leicht an
und klebt dann an dir fest,
es dich nicht los mehr lässt.
Schau was das machen kann,
manchmal fängt Glück so an,
doch oft genug ist dieses Glück nichts als ein mieser Kick
am Weg zum Untergang.
Manchmal kommt es als Stromschlag – du tüfftelst an etwas herum,
und heute genau ist dein Pechtag, der Strom in dir drin legt dich um.
In der Aufzucht nennt man es Strafe, gebrannte Kinder scheuen Feuer,
Erzieher zerr’n Hände in die offene Glut und schaffen sich Ungeheuer.
Schau was das machen kann:
es fasst dich ganz leicht an
und klebt dann an dir fest,
es dich nicht los mehr lässt.
Historiker nennen die Stunde, wenn eine Entscheidung fällt,
ein Machtmensch tritt aus der Runde und verkündet: Ich ändre die Welt.
Und wir sind dabei bis zur Neige, ob Niederlage, ob Sieg –
ist Sicherheitsdenken denn feige?
Niemand mit absolut keiner Idee hat jemals das Recht auf den Krieg!
Man behauptet, es sei notwendig, zur Gerechtigkeit nur’n Stück Weg,
mag sein – doch schon nach dem ersten Schuss das Schreien heißt: Nie mehr Zurück.
Schau was das machen kann:
es fasst dich ganz leicht an
und klebt dann an dir fest,
es dich nicht los mehr lässt.
Schau was das machen kann,
auch Glück fing mal so an,
doch oft genug ist dieses Glücksgefühl nichts als ein mieser Trick
am Weg zum Untergang.
Fête de la Musique
Es begann bei der Fête de la Musique. Mit Auftritten war es spärlich geworden, Corona die große Bremse, feste Gagen waren wie die gebratenen Tauben im Märchen. Die Veranstalter sagten: „Du bist gut. Aber du musst jetzt Vegetarier sein. Gebratene Tauben sind ungesund.“ – Irgendwas daran gefiel mir nicht. Und außerdem ging immer, wenn ich mich an ein Instrument setzte, neuerdings etwas daran kaputt, gerissene Saite, Taste blockiert, Stuhlbein bricht -.
Aber heute war Fête de la Musique, heut durften alle ran, Partisanen an die Front! Ich wuchtete also mein Keyboard vom vierten Stock auf die Straße, trug den Ständer hinterher, den Hocker, das Nachhallpedal, die Notenablage – hier kam ich, ein Kämpfer für die Unmittelbarkeit …
Jetzt brauchte ich nur noch Strom.
Meine Nachbarin im Erdgeschoss, immer voll am Gendern, 1000% pro Ukraine und trotzdem Nie wieder Krieg, die fragte ich nach Strom, und sie fragte sofort zurück, ob Musik denn immer ein Sklave der Technik sein müsste? „Sklavin“, sagte ich, und das machte sie nachdenklich. „Du bist doch bestimmt längst solar“, lockte ich – und damit kriegte ich sie dann rum.
Ich wohne in einer sogenannten Künstlerkolonie, wo die Leute es gar nicht so sehr mögen, wenn ihnen künstlerisch etwas aufgedrängt wird, schon gar nicht vor der eigenen Haustür. Sie könnten das alles nämlich selbst immer besser, aber musste es überhaupt sein?
Eh ich mit meinem Aufbau fertig war, hatten also schon mehrere Menschen die Straßenseite gewechselt. Manche mit einem aufmunternden „Hau rein“ auf den Lippen. Und das war auch nötig. Die Verlängerungsschnur der Nachbarin reichte nämlich nur knapp durch den Vorgarten, an eine wacklige Stelle des Bürgersteigs, wo mein Keyboard nur sicher stand, wenn ich einen Buckel im Boden ausnutzte, dann war es zwar schief, aber kippelte nicht. Nur, dass die Textblätter dann immer wegrutschten. Nochmal nach Klebstreifen fragen, an dieser Wohnungstür, hinter der jetzt Konstantin Weckers Antikriegshymnen perlten? Ich sagte: „Nein!“ Und während die ersten Tasten sich mir anpassten und die ersten Seiten zu Boden rieselten, war mir das Pärchen gar nicht aufgefallen, das mich da mit zwei Handycams filmte, so wenig wie mir eine Handlung bewusst wurde, die ich ganz nebenbei machte, und die man in ihrer Beiläufigkeit gern dem ehemaligen Trainer der Fußballnationalmannschaft zuspricht.
„Ich bring dir Blumen aus Betumen,
denn nur die Harten gehen nicht ein im Garten“,
diese zwei Zeilen hatte ich im Kopf aus einem Lied, das bisher aus nichts anderem bestand als aus diesen zwei Zeilen. Aber gerade, als ich sie singen wollte, kippte mein Piano und riss im Fallen noch das Stromkabel weg. Ich war kurz wütend, dann zuckte ich die Achseln und baute alles wieder ab. Auftreten war wohl einfach nicht mehr mein Ding.
„Du weißt es schon“, sprudelte die Freundin am Telefon, während ich staunend auf hunderte Mails und Whatsapps starrte, die sich über Nacht auf meinen Accounts gesammelt hatten. „Du gehst viral“, jubelte sie, und eh ich noch “Ich weiß nicht mal, was das ist, und sowas würd ich wirklich nie tun“ stammeln konnte, fuhr sie fort: „Soviele Klicks. Elftausend bis 7 Uhr früh – meine Kids in der Schule, die reden über nix anderes, weißt du…“
Das Filmchen auf Youtube war kurz: Ich am schiefen Piano, die Textblätter rieseln, ich pople – dann dieses, das mir selbst peinlich ist -, das Klavier kippt, Kabel reißt, wütend trete ich mit dem linken Fuß dem Digitalkasten hinterher. Länge 1:17. 23.103 Zugriffe, Stand 10:00.
Ich dachte: Diese Blumen aus Betumen, das sind doch sind echte Trumms, nicht nur so Krumen –
in dem Moment ging mein Festnetzanschluss: „Wir dachten, wir kriegen Sie am ehesten auf diese Weise“, erklärte eine dunkle Frauenstimme, „genau, uns ist schon klar, Sie gehören einem anderen Kulturkreis an… Wissen Sie überhaupt, was passiert ist? Wir ha’m Sie ja gefilmt. Sie sind ein Star! Genau. Das hat zwar heutzutage eine andere base als zu Ihrer Zeit – aber bis Sonntag werden Ihnen und Ihrem Klavieraufbau ca. eine Million Menschen zugesehen haben – mehr, als Sie künstlerisch jemals hatten. Ich weiß, dass könnte Sie triggern, genau… Nehmen Sie’s als eine challenge! Sind Sie noch dran?“ Ich ließ eine lange Pause entstehen, dann sagte ich: „Und nur die Harten gehen nicht ein im Garten.“
Die Nachbarin hat an der Stelle, wo unser täglicher Set ist, längst einen Stand eingerichtet mit Bioprodukten und Klavierauftstellmann-TShirts. Wir lassen ihr den Gewinn gegen verlässlich reissende Stromkabel. Die Kollegen aus der Kolonie schlendern wie zufällig vorbei, um mit Ausrufen wie „supernice“ und „der Vibe ist echt das Wichtigste“ den Hintergrundchor zu bilden. Ich baue den Digitalkasten auf, irgendwas segelt runter (das ist der changing slot, es muss nicht immer ein Textblatt sein, manchmal ist es auch das Produkt eines Sponsors, manchmal reicht mir wer ein Maskottchen), dann kommt mein Jogi-Löw-act, ich lass den Kasten kippen, trete nach – Tag für Tag. Einschaltquote im Durchschnitt knapp eine Million, Werbeeinnahmen entsprechend.
„Und mal ein eigenes Lied?“, hab ich anfangs ganz hoffnungsvoll gefragt.
„Das geht natürlich gar nicht“, lächelte die dunkle Stimme, „unsere Menschen, die audience, die sind so tief verunsichert, so vieles belastet sie ununterbrochen. Da wollen sie nicht gejugded werden. Sondern influenced von etwas völlig Geprooftem. Genau. Dass alles mal bleibt, wie es ist – dieses slow down des Lebens, das ist ja eigentlich die Kunst.“
Ich sehe das etwas anders. Am letzten Tag, wenn die Quote ganz unten ist, da werde ich all die neuen Zeilen mal singen, die sich angesammelt haben, dann kann mir ja keiner mehr was.
„Ich bring dir Blumen aus Betumen, die sind wie Licht, sie sind das Lumen. Hör auf zu warten! Denn nur die Harten gehen nicht ein im Garten.“
Oder so ähnlich.
Bei der nächsten Fête de la Musique. Am Tag der Partisanen.
©MM, Mai und November 22