Rotes Tuch

Rotes Tuch

Rolle rolle rolle

Staubsauger

Aufbruch

Kiewer Runde

Hochwasser

Rotes Tuch

Wer hat der kriegt

Ihr verdient uns nicht

Anderes Blau

Romanze

Der verlorene Posten

Schuldunfähig

Elegie

drüber

Zeitfenster

Rotes Tuch – Unveröffentlicht

Ihr wisst das alles schon

Gartenfest

Frankfurt 1.6.13 Monolog

Musik

schlimm

Rolle rolle rolle

Manchmal kriegst du Angst und weißt es nicht einmal.
Machst die gleichen alten Dinge, nur dass jetzt alles nicht mehr richtig will,
paar Kleinigkeiten sind anders, du gerätst in ein fremdes Licht,
und die Tricks, die du immer gekonnt hat, zum Greifen nah, nur leider kriegst du sie nicht.
Und das Feuerwerk, das grad abbrennt, krepiert unter dem Mond,
während alle um dich rum sich in den Armen liegend jubeln: Na, das hat sich ja mal wieder
gelohnt!
Soweit Australien weg ist von England, so fest fixiert, für immer so fern,
geht an dir grad jede Freude vorüber – keine Sternstunde, du lernst es ungern…

Und du singst: „Rolle rolle rolle,
ich werd es lassen.
Meine Vorstellung reicht nicht aus, die Vollkommenheit zu fassen.“

Rolle rolle rolle.
Rolle rolle rolle.

Ich bin nur wie ein Spammail,
unerkannt in deinem Nest.
Ich warte: Klickst du mich irgendwann an
oder löscht du mich mit dem Rest?

Manchmal fasst du Mut und weißt es nicht einmal,
nimmst die gleichen steilen alten Stufen, doch der Rückenwind ist diesmal brutal.
Kleinkram kommt nerven wie eh und je, doch plötzlich hast du dein eigenes Licht,
und die Tricks liegen da im Vorbeigehn, du kannst sie dir nehmen, aber brauchst du gar
nicht.
Denn das Feuerwerk, das grad abbrennt, das überstrahlt den Mond,
während alle andern ein wenig müde seufzen: Also, diesmal hat es nicht so recht gelohnt.
Und so sicher wie die Entfernung zwischen Lemberg und Paris
ist deine Freude, dass deine Sternstunde kommt – die Sterne wissen sogar, wann sie ist.

Und du singst: „Rolle rolle rolle,
ich kanns nicht fassen.
Meine Vorstellung reicht nicht aus, von der Vollkommenheit zu lassen.“

Rolle rolle rolle.
Rolle rolle rolle.

Und ich bin wie eine Spammail,
unerkannt in deinem Nest.
Ich warte immer noch: Klickst du mich irgendwann an
oder löscht du mich mit dem Rest?

T&M: MM 2012

Staubsauger

Flusen in der Küche,
Haarbüschel im Bad,
früher hab ich weggeschaut,
mir fehlte guter Rat.
Aschrerest am Bettrand,
im Teppich grauer Fleck,
ich habe was geschenkt gekriegt,
und all der Dreck geht weg.

Da muß n Staubsauger ran,
da muß n Staubsauger ran,
da muß n Staubsauger ran,
der alles staubsaugen kann.
Ich hab den Staubsauger, Mann,
der soviel staubsaugen kann,
ich lass den Staubsauger ran,
und dann kommt einfach alles dran.

Leergesaugte Wohnung,
raus ins Treppenhaus,
der Nachbar macht die Türe auf,
scheu wie eine Maus.
Ich mag nicht seine Möbel,
und seine Videos nicht,
und wenn ich ihn mir genau anschau,
dann auch nicht sein Gesicht.

(Ref.)

Raus auf die offne Straße
mit Batteriebetrieb,
überall der Hundedreck,
das ist mir richtig lieb.
Komm her, du großer Pitbull,
komm her, du kleines Frauchen,
ich weiß, ihr habt es gern gesehn:
mich vor euch verkrauchen…
Ich habe eine Liebste,
die war lange Zeit verreist,
sie kennt ja mein Geschenk noch nicht,
und auch nicht, was es heißt.
Ließ vor der Reise durchblicken,
sie sei sich nicht im Klaren,
was aus uns beiden werden würd –
wo wir so glücklich war’n…

(Refr.)

Jetzt steh ich auf den Feldern,
und hinter mir die Stadt,
alles gründlich leergeputzt,
ich hab mich selber satt.
Hab immer nur den Dreck gesehn
seit vielen, vielen Tagen,
ich schau auf das Gebläse,
und jemand andres hör ich sagen:

Da muß n Staubsauger ran,
da muß n Staubsauger ran,
mich saugt der Staubsauger an –
es kommt einfach alles dran.

Wupps, die alte Welt ist wieder da,
und ich mittendrin:
die Haarbüschel, die Flusen,
die Hundehalterin,
ihr Pitbull, mein Nachbar,
die Allerliebste auch –
Mensch, ist das hier schön dreckig,
ich weiß, was ich jetzt brauch …

(Refr.)

© T: MM, Bov Bjerg, Horst Evers, M: MM, Andreas Albrecht 1999

Aufbruch

Wie immer der Weg geht,
er wird nicht gehn wie immer,
was heute hier herumsteht,
ist dann nicht mehr im Zimmer.
Wenn ich müde und stur bin,
musst du gar nicht viel machen,
leise dreht sich die Tür in den Angeln,
und ab geht dein Lachen.

Und die Wolken ziehn friedlich,
wilder ziehen die Schwäne,
es ist alles am Platz,
Feuer, Wasser, die Hähne.
Und der Mann auf dem Fluss,
der mit der Stange zum Grund taucht,
weiß denn er, dass zum Abschied
es nie einen Grund braucht?

Es tut gut, so zu fahren,
als ein liebendes Team,
mit den Kletten aus Jahren,
wie übriggeblieben,
so wie noch nie empfunden:
die Einigkeit
im Dämmer des Aufbruchs.
Sei bedankt und bereit.

Und die Schwäne ziehn friedlich,
wilder ziehen die Träume,
es kommt alles zurück,
Wasser, Feuer, die Bäume,
die in den Himmel wuchsen – so bloß,
so wie gemacht für unsre Fahrt auf dem Floß.

Es tut gut, so zu fahren
in seltner Einigkeit
mit dem Wind in den Haaren,
bedankt und bereit.

Es tut gut, so zu fahren
in seltner Einigkeit,
mit den Kletten aus Jahren.
Sei bedankt und bereit.

© T&M: MM 2014

Kiewer Runde

Ich saß an der Hotelbar einem Trinker gegenüber,
der sagte: „Wer so lügt wie ich, muss saufen drauf, mein Lieber.
Zerlegte Leichenteile, Trümmerhaufen zum Durchwaten,
ich verschweig es alles, es sind die Folgetaten
von irrer Macht, die gallopiert gleich hier in den Kulissen,
Kalkül, Verrat und Doppelspiel – du willst es gar nicht wissen.“
Ich fragte ihn nach seinem Job, er sagte: „Journalist“,
und meine Antwort ganz naiv war die: „Na, dann erzähl doch, wie es ist.“
Da lachte er und trank auf mich und rief mit roten Ohren:
„Den Tag, an dem ich schreib, was läuft, hab ich den Job verloren.

Denn ich bediene Massen,
die brauchen einen massentauglichen Bericht,
die weiten breiten Massen
krieg’ne Ansage, mehr krieg’n sie nicht.
Ein irres Feindbild macht sich gut, Worte wie: Die Würfel sind gefallen.
Nach Wahrheit suchen bringt nur böses Blut,
abgesehen davon, dass die Auftraggeber nicht dafür bezahlen.“

Neben uns stand länger schon ein arroganter Hänger,
ein Typ, der Frau’n ein Ohr abkaut und wickelt sie dann um den kleinen Finger,
„ich bin“, sprach der, „in diesem Nest vielleicht der produktivste Schieber,
kam her als Menschenrechtsspezialist, vermittle jetzt Waffendeals, mein Lieber.
Ich bin“, so fuhr er fort, „in unsrer Heimat auch ein gewählter Volksvertreter,
soviel ich weiß, wars für die Grünen, ein Karrierebrett für später.
Hier jedenfalls fördre ich im Namen der EU den Demokratieprozess,
für Freiheit, Freihandel, eine freie Armee gegen all den russischen Aggress.
Sehn Sie da drüben die drei Lederjacken mit den Hakenkreuzbinden,
das ist meine persönliche security – und eh Sie das vielleicht peinlich finden, sag ich ganz klar:

Wir regieren hier Massen,
und die brauchen eine massentaugliche Politik,
die weiten breiten Massen
woll’n ja eigentlich leider immer nur ihr primitives privates Glück.
Ein irres Feindbild tut da gut, alte Slogans wie dies: Ehrenvoll, fürs Vaterland zu fallen –
dass nur die Furcht nie ruht –
abgesehn davon, dass die Auftraggeber nicht dafür bezahlen.“

Ich fragte: „Auftraggeber – sind Sie nicht vom Volk gewählt?“
„Gott, wie naiv“, stöhnt da ganz tief im Barraum sitzend ein kleiner dicker Mann gequält
und winkte mich an seinen Tisch, er lachte: „Natoknechte und nichts sonst, da vorn die beiden,
die woll’n die Schürfrechte an diesem Land und werden furchtbar dafür leiden,
denn wir, vereinte Slawen, wir wehren uns mit Blut gegen die schwulen Ami-Banden.“
„Wer sind denn Sie“, frag ich, und er: „Ich bin ein Putin-Troll. Ein Geist, eigentlich nicht vorhanden,
trotzdem ganz präsent, hab mich hierher verlaufen, bin jetzt Zivilist, in einer Uniform,
die Sie erst sehn, wenn ich Sie festsetze und Ihnen ernsthaft schwindlig ist –

denn wir, wir zaubern Massen
von Moskau her, wir ha’m den dazu passenden Traum,
die weiten breiten Massen
woll’n immer gut beschäftigt sein, sonst beherrscht man sie ja kaum,
ein irres Feindbild tut da gut, zum Beispiel der perverse Westen,
dass nur die Furcht nie ruht –
ein großes klares Wir, das zahlt sich aus am besten.

Dann war es länger still. Ich trank etwas.
Ließ einen fahren. Das stank etwas.
Dann sah ich hoch, und die drei Männer standen seltsam einig vor mir,
sie sagten: „Leiden könn’ wir uns zwar gar nicht, doch jetzt sprechen wir im Chor zu dir,
denn so, mein Freund, wie du uns zeigst, ist jede Würde uns geraubt –
du machst uns zu Klischees …“

und ich sag: Ey, was habt denn ihr geglaubt?
Ich sing für Massen
und brauch natürlich ein massentaugliches Lied,
die weiten breiten Massen
hör’n sowieso nicht gern von diesem sinnlos grausamen, herbeigepöbelten Krieg.
Ein irres Feindbild hab ich nicht – na, dann soll das Lied erstmal mir selbst gefallen.
Wenn ihr schlecht drin wegkommt, ist das genau so gemeint.
Und wenn ihrs anders wollt, dann muss einer von euch mich schon ziemlich gut dafür bezahlen.

© T&M: MM 2014

Hochwasser

Hochwasser schwillt an, schwillt bei Tag und Nacht,
alles, was du hattest, wird ab jetzt nicht mehr bewacht.
Der Chef vom alten Rathaus sieht hinterm Markt den Fluss
und weiß: Noch eine Handbreit mehr,
nichts bleibt auf trocknem Fuß.
Er schließt den Sitzungssaal.
Hochwasser überall.

Hochwasser schwillt an, bis Autos Klumpen sind,
Versicherungsleute flüstern Zahlenketten in den Wind,
und eine alte Mutter schiebt die Tochter unters Licht:
„Du tanzt, mit wem dus gesagt bekommst,
oder du tanzt gar nicht.
Und frag mich nicht nochmal.“
Hochwasser überall.

Die Ärztin mit dem schnellen Boot, der Fahrtwind färbt ihr Wort,
ruft: „Junge, schwing dich rüber, wirf deine Plünnen über Bord,
da vorn versinkt das alte Schloss, ich schreib dir ein Rezept
gegen den Verlust des festen Bodens, ich schreib was, das uns peppt
zur Fahrt im freien Fall.“
Hochwasser überall.

Hochwasser schwillt an wie der Reporterchor,
hält Nachbarn, die sich helfen, Scheinwerfer und Mikros vor
an irgendeinem Beckenrand, der mal Wohnzimmer war:
Jetzt gib dem alten Mann die Hand, denn sonst ertrinkt der ja
direkt hier im Kanal –
Hochwasser überall.

Die Kanzlerin in Stiefeln, etwas Wehmut im Gesicht,
hat so viele Milliarden schon verpfändet, die paar neuen störn sie nicht,
sonnt sich im Charme des Helfertums der Jugend am Sandsack,
hört sich selbst ein bisschen staunend zu, als sie „Viel Vergnügen“ sagt,
als wäre das normal –
Hochwasser überall.

Irgendwann mal nimmt es ab, die letzte Welle rollt,
jemand, der sich für Gott hält, ruft: „Das hab ich nicht gewollt!“
Ein Talkshowgast aus Döbeln wird vor den Fluten interviewt und denkt:
„Was für die meisten schrecklich ist, das tut manchem doch auch ganz gut.“
Da rekelt sich der Fluss nochmal und sagt sowas wie: Komm.
Hochwasser ist nicht dumm.
Komm für ein letztes Mal.
Hochwasser überall.

© T&M: MM 2002/10/14

Rotes Tuch

Die Dame dort im Flur war My Fair Lady,
sang in den Varietés von Genf bis Flensburg rauf.
Und der Herr da neben ihr heißt Badura,
spielte Klavier für sie von Jugend auf.
Komm rein – die Zwei sind meine Gäste,
und manchmal kommt Musik aus ihrer Tür…

Komm und lies mich wie ein aufgeschlagnes Buch,
trag mich wie ein rotes Tuch.
Komm, wir tanzen, tanzen für den Stier –
deshalb sind wir hier.

Er war der Gigolo, sie war Scheherazade,
er war der Doktor, vor Lolita auf den Knien,
und als ich einzog hier, machte ich alles weiß und gerade
und hab geglaubt, dass mit dem Staub
auch die Gespenster fliehn.
Aber hörst du?

Nachts, wenn es ganz still ist,
da sind sie wieder da,
das Girl aus Ipanema
für den Jungen mit der Mundharmonika…

Komm und lies mich wie ein aufgeschlagnes Buch,
trag mich wie ein rotes Tuch.
Komm und tanz mich weiter für den Stier –
deshalb sind wir hier.

Komm, lies du mich wie dein aufgeschlagnes Buch,
lies mich, lies mich auf, wir sind hier auf Besuch.
Ah, das Leben ist kein Zauber und kein Fluch –
das Leben ist ein rotes Tuch.

Und dann tanz mich, tanz mich vor den Stier –

© T&M: MM 1988

Wer hat, der kriegt

Ich kann es nicht mehr hören.
Kindernotdienst. Minijobs. Altersarmut.
Manchmal denk ich: Könn’ die uns nicht in Ruhe unser Geld verdienen lassen? Hätte am Ende jeder was davon.
Kommen Sie, steigen Sie ein. Wir machen das Interview in meinem Wagen. Ich will erst was loswerden, das wird Sie vielleicht überraschen, das erwarten Sie von mir wahrscheinlich gar nicht. Ich hab mich immer sehr weit links  positioniert. Meine Fresse kräftig aus dem Fenster rausgehängt. Mit Leistung überzeugt. Und Selbstausbeutung. Verlegerisches Risiko sagt man dann dazu. Einmal Urlaub in zehn Jahren, 14 Tage Polynesien, wo die Trobriander leben, von denen Wilhelm Reich geschrieben hat – is’n andres Thema. Aber, wenn jetzt wieder jemand hier in eurem Inforadio was von Vollzeitjobs unter der
Armutsgrenze flötet, dann sage ich:
Na und! Einer wie ich hats schließlich auch geschafft:

Wer will, der kann.
Wer kann, der hat.
Wer hat, der kriegt.

Is so. Ich hab den Laden nicht erfunden. Und diese Sprüche auch nicht.

Schauen Sie mal aus Ihrem Fenster, da drüben an der Straßenecke, die beiden Gören, sehn Sie die? Mit denen hatt ich neulich eine Art Gespräch – ich geh an denen da vorbei, die eine Göre hält ihr Handy hoch und mault: Und damit wird man neuerdings noch abgehört – und ich bleib stehn und sag:

Da müsst ihr wirklich keine Sorge haben, ihr zwei beiden. Ihr kommt mit eurem Leben doch sowieso nicht klar. Die Elite, eine Frau Merkel, ein Herr Steinmeier, sowas wird abgehört. Entscheidungsträger, Sahra Wagenknecht oder auch ich – für uns macht es Sinn. Nicht für so kulturlose Luschen wie euch. Und dabei zeig ich auf die beiden, denen ihre Smartphones so wie angewachsen in den Händen liegen. Komm, wir machen mal’n Experiment, sag ich, hat eine von euch zweien Lust, mal kurz ein Manuskript zu lesen, zu lektorieren, wie man das nennt, eine echt moderne, voll gesellschaftskritische Story für genau eure Bezugsgruppe, young urban grown ups, Abiturientinnen, die ihr doch sicher seid, stimmts oder hab ich Recht?…

So echt lesen, fragt da die eine, auf Papier, was krieg ich denn dafür?

Die andre schaut nur nachdenklich ins Leere.

Ich sage: Gar nichts, gar nichts kriegst du. Nur die Chance auf das nächste Manuskript.

Und dann?, fragt die.

Auf noch eins, sage ich.

Und dann? fragt jetzt die andere.

Dann fängst du vielleicht an es zu studieren, sag jetzt ich in diesen leeren Blick, du lernst und lernst, bis du einen Master hast in Germanistik, Kulturwissenschaft, scheißegal, jedenfalls lektorierst du zwischendrin schon immer mal die Manuskripte, lernst und lernst, und wenn du einen super Abschluss hinlegst, dann hast du damit auch die Chance auf ein Praktikum in meinem Verlag. Und ich freue mich, dich dann als Mitarbeiterin auf Zeit begrüßen zu dürfen.

Und was gibts dafür, fagt jetzt der leere Blick.

Zunächst mal gar nichts, sage ich, denn zwanzig, dreißig andre so wie du haben sich natürlich auch beworben auf den Platz – du aber kriegst ihn, für ein halbes Jahr, umsonst, darfst richtig arbeiten, wie eine echte Erwachsene, ist das nicht toll? Und wenn du dann noch gut bist, dann – vielleicht – führen wir ein Einstellungsgespräch, und bei positivem Ausgang übernimmt dich – vielleicht – jederzeit kündbar, mit Werkvertrag von Projekt zu Projekt – mein Verlag.

– Und wovon leb ich in der Zeit?

– Von deinen Eltern, den treusorgenden…

– Und wenn ich andre Eltern habe? Arme? Übelst gleichgültige?

– Dann hast Du Pech. Ich weiß, was du jetzt sagen willst – und du hast natürlich Recht: gute alte Klassengesellschaft. Ewig gleiche Bildungselite. Nichts für Arme. Gibt viele schlaue Bücher darüber, seit Jahrzehnten, besonders aus unserem Katalog. Aber ist halt so. Und bleibt! Weißt du, umso älter ich werde, umso mehr bin ich dankbar, dass manche Dinge unverändert sind in dieser sich so rasend wandelnden Welt. Ich hab den Laden nicht erfunden.

So ein verfickter Scheiß, sagt da die eine Göre.

Doch die andere, die mit dem leeren Blick, die sagt: Ich machs.

Und ich war wirklich baff. Chapeau.

Wer will, der kann.
Wer kann, der hat.
Wer hat, der kriegt.

So, und jetzt sind Sie dran: Fragen Sie mich, was Sie fragen wollen, aber schnallen Sie sich besser an. Mein rechter Fuß wird gerne mal zu Blei, wir haben früher oft gescherzt, dass wir die Autos nach der Revolution so machen, dass der linke mal das Tempo macht. Spaß beiseite.
Verlagswesen – heutzutage nur ein Trauerspiel. Verantwortung für die Belegschaft – kaum mehr zu schultern. Beruflich hab ich allerdings eine kleine Hoffnung: Dass der Lonesome Planet uns demnächst mal aufkauft, wegen unsrer super Reisebuchabteilung. Ha’m übrigens zwei Praktikantinnen seinerzeit quasi im Alleingang aufgebaut – enorme Leistung: Zehn Millionen Wert – das wärs. Ab in die Südsee, und diesmal etwas länger als nur 14 Tage. Wenn ich erst meine Memoiren schreibe: Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren, sowas ha’m wir geschrien, kommt heute in Designermovies vor. Was wäre dieses Land denn ohne uns, die alte linke Garde? Was ha’m wir nicht alles erkämpft – und erreicht, zumindest für uns selbst. Ihr jungen Leute ahnt das gar nicht wirklich.

Die mit dem leeren Blick – dies Mädel allerdings, die muss an mir was finden. Geld kann’s ja eigentlich nicht sein. Tja – in zehn Tagen, da spielen wir Verlobung, das kam ganz überraschend, und ich lad Sie hiermit ein.
Vielleicht werd ich auch zum ersten Mal in meinem Leben reingelegt… na, dann hat sie jedenfalls schon mal was von mir gelernt, die Göre.

So, jetzt aber raus hier. Ich glaub, das Interview ist vorbei – schreiben Sie ruhig, was Sie wollen – hey Rita, komm, steig ein, wir wollten doch den Minicooper für dich kaufen heut nachmittag – setz dich, anschnallen, Augen zu, ab gehts…

Wer will, der kann.

© T&M: MM 2013

Ihr verdient uns nicht

Ihr benutzt Fahrtdienste, ihr selber fahrt nicht,
Flug, Netz und Eisenbahn, ihr kriegt es gratis,
was da vorbeizieht, nennt ihr gern ‚Die Welt da draußen‘,
bleibt hinter Glas, wenns klirrt
oder beschlägt von außen.

Ihr seid gewählt zu was Besonderem,
in eure eigne kleine Welt, geschützt vor anderen,
auch bei dem Wort immun
denkt ihr an etwas anderes
als das, was uns dazu einfällt.

Und ihr kämpft und kämpft und kämpft,
für diesen Kampf ums Ganze seid ihr dabei,
ihr kämpft und kämpft um dieses Große –
den Listenplatz in der eigenen Partei.

Und ihr verdient uns nicht,
ihr würdet gern geliebt, bereit und willig,
doch ihr verdient uns nicht,
ihr seid nichtmal zu teuer für uns, wir sind für euch zu billig.
Ihr verdient uns nicht.

Krieg oder Frieden? Wachstum, Gerechtigkeit?
Es klingeln hunderttausend Worte, nur eines nicht: Bescheidenheit.
Wir wissen, dass ihr vor der Wahl versprecht und Ziele nennt,
an die euch nachher ungern wer erinnert, weil ihr euch selbst an nichts erinnern könnt…

Aber ihr kämpft und kämpft
in Sorge um das Ganze, die an euch frisst,
ihr kämpft und kämpft – in dieser Chaoswelt um Klarheit,
und wenns nur im Versorgungsausschuss ist…

Das Märchen geht so: Aus allen Teilen der Bevölkerung strömen Abgesandte in die Parlamente,
machen dort ein Stück weit diese Arbeit, kehren fröhlich zurück ins Glück von ihrem ganz normalen Alltag –
ihr schon lang nicht mehr.
Ihr werft einander gerne mal zum Fraß vor.
Ihr spielt einander gern mal echt empfundenen Hass vor.
Aber der Wunsch, der euch verbindet, der euch kettet aneinander, der lautet: „Nie mehr zurück!
Nie mehr weg von dieser Droge…“

Und wenn ihr so richtig blöde werdet, so richtig seehofermäßig, dann doch nur, weil wir die Wahrheit nicht ertragen, weil wir in keiner Chaoswelt leben wollen, sondern in klar geregelten Verhältnissen, mit etwas Süßem im Portemonnaie und im Magen.
Mann, wo ihr das doch kaum noch für euch selbst hinkriegt.
Sagt doch einfach: Wir suchen uns besser mal ein anderes Volk.

Ihr verdient uns nicht,
ihr würdet gern geliebt, bereit und willig,
doch ihr verdient uns nicht,
ihr seid nichtmal zu teuer für uns, wir sind für euch zu billig.

Ihr verdient uns nicht.

© T&M: MM 2014

Anderes Blau

Der Maler an der Reling,
das Meer vor sich im Frühling,
malte es schmutziggrau.
Man fragte ihn: Fehlt Farbzeuch?
Er lachte nur: Was quält euch?
Das ist ein andres Blau.

Wenn du ein schwarzes Loch siehst,
gar nichts, und dann doch siehst,
erinner dich genau:
Das ist kein plötzlich Blindsein,
kein völlig durch den Wind sein,
ist nur ein andres Blau.

Wenn ich drei Tage wach war,
drei Nächte auf dem Dach war,
ein Ritt, und ich erinner mich genau,
und kommt dann übern Hügel
ein Pferd zu mir mit Flügel –
das ist das andere Blau.

© T&M: MM 2014

Romanze

Es ist wirklich nicht einfach
als Südländer in diesem kalten Land,
wenn der Flughafenschaffner keine Auskunft gibt
und ein Proll schlägt dir das Portemonnaie aus der Hand.
Weißt nicht, wohin, fragst manchmal schon: Wofür,
es ist außerdem nicht einfach mit dieser Dame neben dir,
mit den wunderschönen Knien, die dich anstarrt, als wärst du Stein,
und sie meißelt ihren Blick direkt in dich rein.

Doch wer würde gerne tauschen
mit einer Reisenden, die dringend Abstand braucht
von dem Torrerotyp mit dem Haufen Kleingeld,
das er im Fahren balanciert, während der Bus sie staucht.
Und keiner fragt: Madame – woher?
Sie ist eine Fremde, zurück aus dem Urlaub, hat grad gar kein Zeitgefühl mehr,
müsste direkt zur Arbeit, aber bleibt im Doppeltunnel dieses dunklen Blicks,
sie weiß: Endgültig kalt wird ihr erst sein in dem Moment des Zurücks.

Und alles, was ich da noch sagen kann:
Das Glück fängt gern an solchen Tagen an.

Es sind gut zwanzig Kilometer
bis in die Riesenstadt rein,
er nimmt die Bahn, sie ein Taxi,
und beiden ist so elend allein.
Es prangen zwanzig Firmenschilder metallic
am Marmoreingang zur Allstar-Mall.
Er fährt mit dem Finger das Agentur-Schild ab
und sagt sich: Jetzt soll kommen, was kommen soll.

Während sie, Kusshand zum Pförtner,
die klimatisierte Luft empfindet wie Gift
und weiß: Schon morgen wird sie selbstverständlich sein
wie ihr niedergeschlagener Blick im Lift.

Und alles, was ich da noch sagen kann:
Das Glück fängt gern an solchen Tagen an.

„Ich melde mich auf die Annonce, EU-Förderprogramm“,
stottert er, ganz in seine Papiere vertieft,
da sieht er unterm Tisch die wunderschönen Knie,
während er hört: „Keine Chance. Sie berufen sich da auf ein Programm,
das seit Monatsende gar nicht mehr läuft –
ich könnte Sie von hier nicht mal als Leiharbeiter…“
Sagt sie und schaut dann zum ersten Mal hoch,
und dann spricht sie natürlich nicht weiter.
Und er lacht sie an und fragt: „Oder doch?“

Und alles, was ich da noch sagen kann:
Das Glück fängt gern an solchen Tagen an.

© T&M: MM 2014

Der verlorene Posten

Lass gehn, lass gehn,
da woll’n Leute durch die Schranke durch,
schau doch hin, die haben nichts im Sinn,
was uns schadet, die ha’m nichtmal Furcht.
Winken da, die sind keine Gefahr.

Hier ist es einsam, der Posten kalt,
Antwort auf alles, was kommt, ist ‚Halt‘.

Wir wollten ein freies Land,
man versprach Sieg.
Das meiste abgebrannt,
was bleibt, ist Krieg.

Bleib stehn, bleib stehn,
lass die Leute durch die Schranke gehn.
Wie im Spaß reißen sie die Arme hoch,
die woll’n uns überhaupt nichts tun.
Versuch doch, dein Gewehr noch wegzudrehn.

Hier ist es einsam, der Posten kalt.
Die waren gemeinsam…

„Wir wollten ein freies Land…“

© T: MM, M:George Nussbaumer, MM 2014

Schuldunfähig

So ein feiner Kerl,
eigentlich sogar schüchtern,
empfindsam, ernsthaft, ein richtiger junger Mann,
manchmal still, manchmal nüchtern.
Wir haben natürlich alle Hebel in Bewegung gesetzt,
das mussten wir doch, als Eltern.
Ha‘m ihm gesagt: Entspann dich, du bist wieder zuhaus,
das war doch sicher nur ein Blackout.
Der Anwalt sagte:
Wir gehen einmal von einer stark verminderten Schuldfähigkeit aus.

Geradezu tierlieb, halt ein richtiger junger Mensch,
am Schulalltag leidend,
seine Mitschüler haben ihn wie einen Verbrecher behandelt,
und die Lehrer? Vorverurteilend.
Der ist zu gut, hab ich manchmal gedacht,
und dass, was diese Psychologin jetzt seine Anlage zur Depression nennt,
nichts weiter bedeutet als übertrieben viel Sensibilität.
Hat man doch oft bei späteren Führungspersönlichkeiten.
Die soll schreiben, was sie will, solang am Ende
dies schuldunfähig in ihrem Gutachten steht.

Ja, das Video –
führt kein Weg dran vorbei, ich kann ihn kaum drauf erkennen,
ich glaub, ich hab ihm an dem Morgen geraten zu seinen leichteren Schuhn,
und er lachte: Stimmt, mit denen kann ich ja auch besser rennen.
Wir ha’m das Opfer doch sofort entschädigt,
und ich hab eigentlich indirekt dafür gesorgt, dass es noch lebt.
Hier hat doch kein begriffsloses, sprachloses Prollbündel brutal gewütet,
hier ist nur seelisch etwas übergekocht – Ausnahmezustand,
wie es ihn im Wachstum aller stärkeren Persönlichkeiten gibt.

Dieser sogenannte Krankheitsstress, unser angeblich kaputtes Zuhause –
das sei der Preis der Verteidigungsstrategie, sagt der Anwalt,
und ich bete bei all unsern guten Verbindungen,
dass der Albtraum dieser Demütigung bald aufhört.
„Warum schickt man so einen nicht direkt nach Afghanistan“,
fragt eine mit Kuhblick beim Friseur in suffisantem Ton,
und ich fixiere sie und sage: „Sie glauben wirklich, meine Liebe, diese Arbeitslosen-Berufsarmee
wäre der passende Ort für meinen Sohn?
Als Führungsoffizier, anders nie.
Denn natürlich geht er bald auf eine Eliteuni, natürlich wird er einmal Medienanwalt sein, Kurator
oder Psychologieprofessor, und dies Erlebnis jetzt ist dann irgendwann nichts weiter als ein
interessant funkelnder Fleck in seiner Biografie.“
Da fragt die Kuh: „Und wie kommt so jemand klar mit seiner Schuld?“
Und ich sage: „Durch Schuldunfähigkeit. So ist es auch gewollt.
Jetzt kriegt er eine kleine Strafe für die Gleichheit vor dem Gesetz, dann wird die kleine Strafe
ausgesetzt für ein paar stärkere Regeln. Und am Ende hat es alle nur ein wenig weiser gemacht.
Die Gesellschaft unterbricht doch nicht die Karriere eines solchen jungen Mannes. Was glauben
denn Sie?
Aber wie Sie mich schon anstarr‘n, meine Liebe“, ruf ich, schieb die Trockenhaube beiseite und
geh zur Kasse, „Sie würde voll die Schwere des Gesetzes treffen, falls Sie mir hier was antun wollen“, lach ich, „Sie sind nämlich nicht schuldunfähig. Aber ich. Das riecht man. Darüber
diskutiert man gar nicht.
Das hat man. Oder hat man eben nicht.
Fassen Sie mich nicht an!“

© T&M: MM 2011

Elegie

Ich kam mir einsam vor
und lief doch mit im Rudel,
den eignen Takt im Ohr
war ich ein Stück vom Strudel,
was wie die Stille schien,
war ein öffentliches Rauschen,
und Fragen Mund an Mund, intim,
ein offenes Belauschen.

Ich kam mir zornig vor,
glaubte mit vielen andern
in dem Partisanenchor
die Welt zu unterwandern,
wir fuhren gut mit ihr –
jenseits der Berge Kriege,
dort Schmerz und Hass – und uns dafür
unauffälligste Siege.

Kam mir besonders vor,
hellwach in meiner Nische,
wo ich zu finden schwor mich selbst
so wie hunderttausend andre
in dem Einzelgängerkampf
um die eigene Bedeutung –
im heißen Dampf der Konkurrenz die eigne Haut
in allgemeiner Häutung.

Und kam mir ehrlich vor,
denn ich durchschaute Lügen,
den Klang davon im Ohr,
auch den von meinen eignen.
Ich wollte offen sein,
denn die Liebe hasst das Rechnen,
und hörte, was ich aussprach, nebenan
den Nebenmann genauso sprechen.

Bis hierher war ich Ich,
glaubte, ich wähl mein Hemd aus,
jetzt, wo das Hemd mir sagt, wohin,
seh ich mir selber fremd aus.
Wo man uns gläsern macht,
und alles lässt sich wissen,
jetzt lauf ich fröhlich in die Nacht,
fang an, mich zu vergessen.

„Mich triffst du nicht mehr, solang ich auch rufe … huhu …“

© T&M: MM2013

drüber

wir sind drüber
über den dächern
wollen nicht weg
nur zeit
zeit zu genießen
schwer das zu sagen
leichter das zu singen
deshalb lass die musik an:
es ist nicht der süden
nicht das funkeln der nachtlichter
nicht dieser sternenreigen
es bist du
und das schon so lange
so vetraut
dass wir gut wieder fremde sein könnten
für uns
vertraut wie das meer
und so fremd auch
grün wie das meer
die musik geht sogar aus
und du bleibst
nah genug
und selten genug
in nacht und stille
dass ich glücklich bin
wir sind drüber
kein wort mehr darüber

© T&M: MM 2014

Zeitfenster

Letzter Tag des Jahres, vom Rauch leicht benebelt,
eine Flasche entkorkt, eine Spannung enthebelt,
lauwarmer Nachmittag, lass trotzdem feiern,
sieht man irgendwas Klares in den Neujahrsschleiern:
Gehts auseinander, gehts Hand in Hand?
Sprich den dümmsten Satz, den du findest dazu, bitte sags:
„Das Zeitfenster schließt sich zum Ende des Tags.“

Der Talkshowphilosoph hatte alles gegeben,
sein kluges Erwägen von einem künstlichen Leben
als Ersatz unsres wirklichen, smart ausgeglichen,
vor genaueren Fragen ins Ungefähre gewichen,
gab er jetzt landesweit prostend galant
sein Resumee als die Krönung des Vortrags:
„Das Zeitfenster schließt sich zum Ende des Tags.“

Die Regierungssprecherin saß in der Zange
hereinprasselnder Fragen, sie dachte: Wie lange
halt ich die Gesichtszüge noch unter Kontrolle,
um das Leere zu sagen, so, als wär es das Volle,
mir glaubt ja doch niemand. Ein Satz, elegant,
um euch alle zu warnen – zur Jahreswende, ich wags:
„Das Zeitfenster schließt sich zum Ende des Tags.“

Der Wind blies warm, am Kanalufer Tische,
ein Muezzin rief, wir warfen Brot in die Fische,
waren raus an der Luft, Liebespaare, verbeult
ineinander wie die Autos im Unfall, duck dich, ein Schwärmer heult,
„Sylvester“,tobten die Lettern am Laufband,
„nicht zu fassen“, schriest du, „siehst du, was da grad draufstand?
Unser Schicksalssatz – ach, wenn du mithilfst, ich wags:
‚Das Zeitfenster schließt sich zum Ende des Tags‘.“

Der Deal war perfekt, Gewinnerwartung phantastisch,
ein Spiel, eine Software, die Träume erfasst und plastisch
in Form von Avataren nachbaut am Bettrand.
Die Signatur des Erfinders, sein Investor am Wettstand
setzt die seine daneben, von Gefühl übermannt.
Feuchte Augen übersehn den Schlusssatz des Vertrags:
„Das Zeitfenster schließt sich zum Ende des Tags.“

Den Kanal füllten Boote, den Ufersaum Kinder,
Energien am Boden, in der Höhe nicht minder,
ein Blinder haschte nach den gurrenden Tauben,
rief: „Ihr Ratten der Luft, ihr meine süß-sauren Trauben!“
Da sprühten sich Silben von selbst an die Hauswand:
„Lernt die Stunde des Sehens, ihr folgt die des Schlags,
und das Zeitalter schließt sich zum Ende des Tags,
das Zeitfenster schließt sich zum Ende“.

Bei den Kindern ein Mädchen, schaut aus dem Gitter ihres Schleiers
auf diese sommerliche Winternacht und in das Herz des Geschreis
und sagt: „Wo ich herkomm, gibt es keine Musik mehr.
Hier wirft man sie weg, dort sehnt man sie her.
Wo ich herkomm, da dacht ich: Was ist denn die Liebe?
Still war sie dort, zäh und leise wie Diebe.“

Ganz knapp vor Null, fette Böller beim Küssen,
oder sind es Bomben in echt? – wir werdens nicht wissen –
wir, die wir hier an der Jahresgrenze stehn
und zwei so wie uns in den Trubel laufen sehn.
Bis hierher. Wie betäubt. Schaun einander ins Antlitz.
Jedes Land ist aus Zeit, wie auch die Zeit nur ein Land ist.
Ich will bei dir sein – ist mein zeitloser Vorschlag.
Komm und öffne das Fenster nach dem langen Tag!

© T&M: MM 2014

Ihr wisst das alles schon

Jeden Atemzug
und Gedankenflug,
Haken, die ich schlug
Kuchen, die ich bug,
ihr wisst alles schon.
Jedes kleinste Wort,
grad gesagt und fort,
ihr hört es mit vor Ort,
behaltet es an Bord,
ihr wisst alles schon.

Nie mehr allein –
wer wollte sich nicht freun,
wenn solch ein Schutz ihn trug
bei jedem Atemzug?

Fröhlich lall‘n wir rein,
in unsre Babyphones,
woll‘n ganz mutig sein,
flüstern rückwärts rein,
doch ihr wisst alles schon.

Früher mal sagte man:
„das bleibt unter uns“,
ein Wort aus anderen Zeiten,
die’s nicht mehr gibt,
gottseidank, heutzutage braucht niemand ein Versteck,
du stehst im Bund mit den Feinden, wenn du trotzdem eins hast,
und nur, wer sich durchschaun lässt, wird auch geliebt…

Nie mehr allein –
wer wollte ängstlich sein,
wenn diese Kraft ihn trug
bei jedem Atemzug?

Früher mal sagte man:
„behalt das bitte für dich“,
das war ein Zeichen von Freundschaft
und ziemlich schräg,
denn heutzutage macht sowas nur unglücklich,
schon seine Mails zu verschlüsseln, ein Terrorakt,
und erst, wer richtig durchschaut ist, geht seinen Weg…

Jeden Pups im Darm,
Konto-Kreditalarm,
Po mit Monogramm,
falsche Braut im Arm,
ihr wisst alles schon.

Und so, wie ihr uns liebt,
sammelt und uns siebt,
unsre Lenkung seid,
bleibt nur Fröhlichkeit,
bleibt kein falscher Ton.
Wir hauchen nur: Ganz toll,
Herz und Hose voll,
denn ihr wisst alles schon.
Wir flüstern nur: Genug
mit jedem Atemzug,
denn ihr wisst alles schon.
Ihr wisst das alles schon.
Ihr wisst das alles schon.
Ihr wisst das alles schon.

Gartenfest

Das Haus wirkt nicht schäbig,
keine Wand birst,
nur ein kleiner Riss zieht sich
vom Keller zum First.
Und nur, wer vom Fach ist,
wird ihn überhaupt sehen
in dem Strom feiner Gäste,
die auf das Gartenfest gehn.

Da muss’n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann geht das noch –
n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann hält das doch -.

In dieser freundlichen Runde
tun sich manche schwer leid,
und andre klopfen die alten Sprüche
aus der Vorkrisenzeit,
aber niemand spricht den Satz aus,
an den jeder hier denkt:
dass nur noch der Teufel gewinnt,
und dass acht von zehn, die hier feiern,
ein Milimeter weg vom Offenbarungseid sind.

Da muss’n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann geht das noch –
n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann hält das doch -.

Zu den Getränken passt Harfe,
und die zupft eine junge Frau,
und das Lächeln des Hausherrn,
das kennt sie genau,
Asyl- und Heiratsversprechen,
heimliche Duldung davor,
aber dann der erpresste Deal mit der Ehefrau,
und wie das Lächeln erfror.

Da muss’n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann geht das noch –
n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann hält das doch -.

Natürlich steht auch der neoliberale Bubi
mit am Kuchenbuffet,
unser Sozialstaatsdemontage-Azubi,
zukünftiger Minister ade,
all seine Lobbyistenfrechheit,
wohin hat sie geführt?
Zu der einzigen Chance, die ihm jetzt noch bleibt:
Dass man auch das Wahlrecht dereguliert…

Da muss’n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann geht das noch –
n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann hält das doch -.

Nachrichten von den armen Nachbarn
kamen hier erst an wie ein Witz –
aber wie lang kann es gutgehn,
wenn die Zukunft eine Rutschbahn ist,
auf der erst die Armen sausen,
dann die Halbreichen hinterher,
bis irgendwann, bis auf ganz unten,
niemand mehr ist und nirgends mehr?

Und nur der Teufel macht Gewinne.
Da taucht die Kanzlerin grad auf,
winkt zum Fest nach allen Seiten
und zeigt freundlich auf das Haus:
„Sehr solide“, sagt sie leise,
„Glückwunsch an den Mittelstand.
Die Kredite für den Umbau
vermittle ich aus erster Hand.“

Da muss’n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann geht das noch –
n kleines, kleines, kleines bisschen Tünche drauf,
dann hält das doch -.

Monolog eines EZBlers in Frankfurt
nach den Ereignissen vom 1.6.

„Die sollten doch die Demonstranten nur ein bisschen schützen. Voreinander.
Spreu vom Weizen.
Rädelsführer dingfest, auffälliges Material ausgesondert.
Das wärs gewesen.
Hätte der Rest, hätte die Masse doch in aller Ruhe demonstriert, tief erregt und hochmoralisch. Kennt man, muss so sein. Juckt keinen. Nichtmal das Tagesgeschäft bei uns in der EZB hätte das gestört. Zinsen einen runter, Weizen einen rauf.
Hätten die das nicht als einen cleveren Check im Vorbeigehn durchziehen können? Leider sind sie aber völlig aufgestachelt, wenn Wahlen bevorstehn, wie die Mücken vorm Gewitter, manchmal fragt man sich, wofür wir die bezahlen. Dann solten sie vielleicht wirklich besser mit den paar Diäten auskommen, die sie von der Masse kriegen, die Herrn und Damen, die ihren Job als Volksvertreter so schlecht verstehen.
„Ja, wir müssen doch der Polizei auch einen Knochen hinwerfen“, hieß es da im Vorfeld,„sonst rutscht die weg zu Antieuropa oder zur NPD“. Einer von den Pfeifen hat sogar gefaselt, man könnte ja eine Drohne in die Demo feuern, zur Einschüchterung, und anschließend behaupten, die wäre von Assad gekommen. Soll Sonntagnacht sogar auf Spiegel-Online zehn Minuten lang haarklein beschrieben worden sein, dies ,Massaker von Frankfurt‘ – alle Details sorgfältig ausgeschmückt.
,Nicht mit uns‘, haben wir ausrichten lassen. Es ist eh so unruhig neuerdings, Monsanto, Apple, Ikea – alles nicht mehr, was es war. Und alles wird beobachtet, andauernd. Wie soll’n wir da ruhig arbeiten? Jeder kleine Dieb weiß: Ruhe und Vertrauen sind die Basis für den Job – Zinsen einen runter, Weizen einen rauf…
Die Masse drangsalieren – das ist das Blödeste, was einem einfallen kann in diesen Tagen. Sollen sie doch ihre dämliche Polizei einfach mal austauschen, wenn die nach rechts abdriftet. Arbeitslose gibts genug, zur Not aus Südeuropa. Sollen sie doch einfach mal jeden dieser Bullen und Bouletten fragen: Gab es Ausschwitz, ist ein Asylbewerber denn ein vollwertiger Mensch? Dann wären wir 2 Drittel Ordnungshüter ohne Aufsehen los.
An uns lags nicht. Wir verabscheuen Gewalt, jedenfalls nah unsren Zentren. Wir hatten die Kaffeemaschinen am Start, latte to go, latte to rebel, eine freundliche Demonstrantendröhnung wollten wir anbieten für den Weg. Mensch, diese Leute sind unser Potential, die möchten so gern mittun, wie jetzt bei der Flut, Ärmel aufkrempeln, anpacken, helfen. Die brauchen wir in unsern Rechtsabteilungen, und als Drücker, und wenn sie erben später, natürlich als Kunden, und wir brauchen überhaupt dieses Klima aus freudigem und gärenden Beisammensein. Die allumfassende Unsicherheit, die die Politik geschaffen hat – schön und gut: Solange sie die Menschen kitzelt und nicht apathisch macht… solang die Leute sich noch engagieren und ganz gutmütig reden von ,Griechenlandhilfe‘, ,Flüchtlingshilfe‘, ,Fluthilfe‘ – so lange sie mittun – das ist so wichtig. Und den Politikern kaum noch verständlich zu machen, die schießen immer übers Ziel, die würden am liebsten alle gleich totschlagen, wenn es mal unruhig wird. ,Wenn keiner mehr atmet, nimmt auch keiner mehr einen Kredit auf‘‘, hab ich dem Dobrindt mal direkt ins Gesicht gesagt – na, der scheitert jetzt an seinem Hochwasser. ,Sorgen Sie für gute Laune, das ist ihr Job‘, hab ich dem erklärt. Mehr woll‘n wir nicht, für den Rest sorgt die sogenannte Realität des Lebens. Und die bestimmen immer noch wir. Weizen rauf,  Zinsen einen runter.“

Musik

Zwischen Druckerpatronen
und Kaffeepads
steht das kleine Regal mit CDs.
Ist nicht viel drin,
Helene Fischer und Sting.
Hundertmal mehr DVDs.
Bücher? Ha’m wir schon lang nicht mehr,
na gut: Hörbücher – und Comedy.
Das steht bei Unterhaltungselektronik,
und boomt wie nie.
Aber Musik:
Die hört man doch überall,
die ist wie die Luft zum Atmen
(und die ist auch schlecht genug).
Die lädst du dir rauf, wieder runter,
verdoppelst und teilst du,
das ist nichts mehr wert.
Sag mal, heulst du?
Gar nicht weit weg von hier,
da gibt es Staaten,
da singt nur der Muezzin
und Musik ist verboten.
Da muss man nichtmal den Stecker ziehn.
Hey, da ist Musik ganz schön was wert,
nehm ich an.
Beinah heilig wahrscheinlich, auf ihre Art.
Zieh doch da hin.

Schlimm schlimm schlimm

Dieses System, schlimm schlimm schlimm
das ist nicht schön, schlimm schlimm schlimm
Wann wird das endlich einmal wieder besser?

Man muss sich wehr’n schlimm schlimm schlimm
das will keiner hör’n schlimm schlimm schlimm
Und am allerschlimmsten ist die Mainstream-Presse

Wir kleinen Leute machen was mit,
denen da oben geht’ nur um Profit
Die Lokführer wollen auf die Straße gehn
Die Lokomotiven lassen sie stehn
Das System kriegt endlich auf die Fresse

Alles ist leer, schlimm schlimm schlimm,
fährt echt nichts mehr, schlimm schlimm schlimm,
ich dachte ja, das bliebe nur ne Drohung

und hab noch geliked, schlimm schlimm schlimm,
den Bahnerstreik, schlimm schlimm schlimm,
geglaubt, mein Zug kommt zur Belohnung

Wir fänden’s okay, wenn wir deren Lohn sehn,
dass die da trommeln und pfeifen und stehn,
dass sie mit was drohn und n bisschen so tun,
lassen mal was ausfallen und mal’n bisschen was ruhn.
Aber echt streiken? Das ist doch Verrohung.

Die GDL, schlimm schlimm schlimm,
der geht’s bloß ums Geld, schlimm schlimm schlimm,
und ihr Chef da, im Fernsehen schreit er

Er ist eine Sau, schlimm schlimm schlimm,
sagt seine Ex-Frau schlimm schlimm schlimm,
das steht sogar im Focus, in der Bild und so weiter

Ne Revolution, das wär schon fett
doch dieser Gewerkschaftsboss ist nicht nett
Eigentlich stehn wir auf so’n Rabatz
vorausgesetzt, logisch, dass er uns nicht kratzt
Wir stürmen den Bahnhof, wir sind die Harten,
und kaufen uns vorher Bahnsteigkarten,
sind mutige Kämpfer, richtige Fighter –
nur die Bahn müsste fahr’n, sonst komm’ wir nicht weiter…

© Bjerg, Evers, Maurenbrecher 2014