Viel zu schön

Viel zu schön

Höchste Zeit (1984)

Avignon (1984)

Der Junge kann malen (1984)

Kurhotel (1984)

In der Nachbarschaft (1984)

Tina (1984)

Viel zu schön (1984)

Im Zentrum des Bösen (1983/84)

Gib mir deine Zigarette (1975/83/84)

Flussabwärts (1984)

 

Viel zu schön – Unveröffentlichtes

Lampen überm Meer (1988)

Wechselgeld (1984)

Früher (1984)

Morgen is ‘n neuer Tag (Variation) (1984)

Rand der Welt (1984)

Wenn der Berg sich bewegt (1984)

Der Mann mit der Marke (1984)

Wenn du willst (1984)

Haus auf dem Land (Zufall) (1984)

 

HÖCHSTE ZEIT

Hey, ich hab ‘ne Frage an dich:
Was macht ein Kind wie du auf dieser Party?
Hier sind die Mächtigen des Landes –
bist du nicht ein wenig fremd hier?

Hey, du kennst mich noch nicht –
gib mir deine Hand und geh mit raus auf die Veranda.
Die Sterne und die Lampions
werfen Schatten auf die Wände.

Komm weg hier
und frag nichts,
es wird Zeit.
Und sag nichts.
Bitte glaub mir:
höchste Zeit.

Hey, du musst mich nicht versteh’n,
ich weiß, mir fehlt in diesem Kreis sowas wie Charme.
Da führt der Konsul von Südafrika
den Vizekanzler sanft in seinem Arm.

Komm weg hier
und sag nichts
und frag nichts,
es wird Zeit.
Bitte glaub mir:
gleich brennt’s hier!
Höchste Zeit!

Du, warum schaust du mich so an –
Hörst du? Schüsse ganz weit weg in diesem Garten.
Der Mond kämpft mit den Wolken –
Ich weiß, dass meine Freunde warten.

Hey, komm, hau ab mit mir.

Erst wird es hart sein, nachher find’st du es gut.
Ich seh, du hast die Lust drauf,
dir fehlt nur noch ‘n Stückchen Mut!

Komm weg hier
und frag nichts
und sag nichts,
es wird Zeit.
Bitte glaub mir:
gleich brennt’s hier –
höchste Zeit.
Komm jetzt weg hier,
geh mit mir,
höchste Zeit!

1984 © M.M.

 

AVIGNON

Im Dom spielt ‘ne Orgel,
die Cafes sind noch leer.
Alte Frauen gehn beichten,
und die Mädchen auf den Mofas,
immer hin und her.
Avignon Sonntagmorgen,
die Insel im Fluss
und die Tramps an der Brücke.
Rododendron blüht wild –
hier stand unser Zelt.

Hey, was für ‘ne Nacht,
ich hab geträumt von dir.
Hast du was gesagt?
Ich weiß, dass du nicht da bist,
doch ich spür dich hier,
du stehst neben mir.

Dein Vater war ‘n Boxer
irgendwo in Südengland,
und meine Mutter sang Opern –
wir standen beide eine Nacht lang
an der Raststätte bei München.
Und wir kamen durch die Alpen,
wir kamen ganz dicht dran
an die Kälte und Hitze –
mit der Schlangenaugenlady
von Genf bis Lyon.
Das war die Zeit der Krawalle,
und die Worte war’n groß.
Und wir war’n so wie alle:
wir war’n bloß zwei Jungs, die dachten,
die Welt geht erst los.

Hey, was für ‘ne Nacht –
ich hab geträumt von dir.
Hast du was gesagt?

Und der algerische Matrose
fand dich so wunderbar blond,
mit dem Messer im Gürtel –
wir waren beide sehr verwirrt in Avignon …

Kann sein, ich seh dich im Vorbeigehn
und erkenn dich nicht.
Vielleicht sitzt du irgendwo
und schaust durch fremde Gesichter,
genau wie ich.
Nur die Tramps an der Brücke
woll’n heut früh noch weg
an die spanische Grenze.
So verrückt wie wir damals,
so verliebt …

Hey, was für ne Nacht …

1984 © M.M.

DER JUNGE KANN MALEN

Er wird rot, wenn ihm jemand Guten Tag sagt,
wie er aussieht, kommt das nicht so häufig vor,
wenn du ihn fragst, woran er denkt, sagt er: An gar nichts“,
er wird rot und kratzt sich hinterm Ohr.

Schon als Kind war er ein bißchen schwer zu nehmen,
nicht gerade frühreif – eher: Reif wird sowas nie,
er spielte eigentlich am liebsten immer Flugzeug,
und bis er vierzehn war, bei Vater auf dem Knie.

Wir hatten schon gedacht, er sei eigentlich nicht da,
doch plötzlich riefen alle: Ist das wahr!?“

Der Junge kann malen,
die Bilder stehen im Flur.
Der Junge kann malen,
oh, wie macht er das nur?
Der Junge kann malen,
er machts bei sich zuhaus…

Komm, um es anzusehen,
so, wie er malt, wird die Welt erst richtig schön!

Er war der Kleiderständer bei den kleinen Parties,
er hatte seine ausgesprochne Lieblingswand,
und irgendjemand rief: Sex kommt vor Sieben“,
und er stand da und zählte fünf an jeder Hand.

Wir hatten schon gedacht, er sei eigentlich nicht da,
doch plötzlich riefen alle: Ist das wahr!?“

Der Junge kann malen,
die Bilder stehen im Flur.
Der Junge kann malen,
wie macht er das nur?
Der Junge kann malen,
er machts bei sich zuhaus,
der Junge kann malen,
oh, wie hält er das aus?

Komm, um es anzusehen,
so, wie er malt, wird die Welt erst richtig schön!

1984 © M.M.

KURHOTEL

Der Reiseleiter rechnet,
er macht sich nichs mehr vor,
die Kellnerin schläft leise
mit nem Walkman überm Ohr.
Im Saal fünf alte Damen,
die kommen jedes Jahr
und warten auf die Stimmung –
wie es immer war.
Draußen auf den Pisten
tobt die kalte Nacht,
und Holz haut an die Scheiben –
als hätte wer gelacht.

Wieder ist Sylvester in dem Kurhotel am Waldrand,
wieder ist der Saal geschmückt für hundert oder mehr.
Wenn du deine Augen zumachst, wird es so wie früher,
das Orchester spielt Quantanameira‘.

Gnädigste, darf ich bitten?
Auch diese Nacht ist jung,
und wenn wir beide tanzen,
dann ist das mehr als ne Erinnerung…

Wieder ist Sylvester in dem Kurhotel am Waldrand,
die Dame von der Presse macht uns allen etwas Mut,
wieder ist der Saal geschmückt und wartet auf die Gäste,
das Orchester spielt nochmal so gut.

1984 © M.M.

IN DER NACHBARSCHAFT

Der Staub kommt in’s Schwimmen am Frühstückstisch,
der Schnee ist im Gulli, ein Flachmann schwimmt mit.
Das Taubengift schafft grad die Kinder im Hof,
und ein Bautrupp reißt wiedermal irgendwas auf.

In der Nachbarschaft.

Freitag is’n Totschlag, Samstag is’n Fest.
Die Dame gegenüber hängt am Fenstersims fest.
Und die Laster fahr’n voll auf den Bürgersteig rauf,
und der Preßlufthammer ist Musik für die Jungs.

In der Nachbarschaft.

Das steh’n so gutgelaunte Puppen in der Second-Hand-Boutique,
und die Alte vor’m Kino wünscht jedem ‘Viel Glück’.
Der Pfarrer zeigt Filme für die Punks im Karree,
und immerzu pinkelt ein Hund in den Schnee.

In der Nachbarschaft.

Zwei arabische Mädchen tuscheln im Flur,
da is’n Stiefel an ner Tür, und’n Riegel geht vor.
Und Rolf war in Tegel, da kommt er grad her.
Und die Autos vor’m Haus werden auch immer mehr.

In der Nachbarschaft.

(1984)

Text & Musik: © Tom Waits
Deutsche Fassung: © Maurenbrecher

TINA

Tina ist schon lange nicht mehr sechzehn Jahr,
zwischendurch hat sie graues Haar.
Ihre Freunde tauschen Videos und backen Mandelkuchen,
Tina träumt noch immer von Sex und Revolution.
Sie läuft mit ihren Zetteln von Haus zu Haus.
Die Leute sagen: Denk dir mal was andres aus.

Die Ideen sind im Kopf,
und der Kopf läuft durch die Luft.

Tina liegt so schief, man sperrt sie ein.
Ihre sogenannten Freunde feiern Grillparties am Rhein.
Tina, Tina, ich sing dir diesen Song,
wenn du genau hinhörst, du kennst ihn schon!

Die Ideen sind im Kopf,
und der Kopf läuft durch die Luft –
und die Luft ist auch nicht mehr so, wie sie sollte.

Tina mit dem Messer vor dem Anstaltstor,
mitten in der Nacht – was hat sie vor?
Tina auf dem Marktplatz mitten in der Nacht,
Tina mit dem Streichholz – was hat sie wohl gemacht?
Und Tina vor dem Rathaus dieser kleinen Stadt.
Leise sagt sie: Ich bin noch nicht satt.

Die Ideen sind im Kopf,
und der Kopf läuft durch die Luft.
Oh Tina,
ich sing dir diesen Song –
flieg damit davon!

1984 © M.M.

VIEL ZU SCHÖN

Ja, ich bin schlanker geworden,
braun überall, willst du’s seh’n?
Ja, ich weiß, vor drei Jahren –
ich seh dich mit dem Koffer in der Tür steh’n.
Ich hab die Nase im Wind gehabt,
ich hab ‘n Sack voller Glück gehabt,
ein paar flotte Sprüche,
und die Ampeln war’n auf Grün.

Geld? – Geld is ‘ne Falle.
Als alles anfing, was konnte uns da gescheh’n?
Irgendwann sind wir alle.
Ich geb auf mich acht jetzt und lass jedes zweite Glas steh’n.
Und morgen flieg ich nach London,
ich hab da was zu besorgen,
und außerdem wohnt ein Freund von mir dort,
den muss ich von Zeit zu Zeit seh’n.
Nein, du störst mich nicht,
toll, dass du da bist,
eigentlich viel zu schön.

Warum bist du gekommen?
So ganz ohne Anlass?
Ich hab deine Talkshow geseh’n
und der Sound war viel besser.
Ich glaub, wenn mal nichts mehr da ist von dir,
der Sound bleibt steh’n.
Leg dich ruhig auf’s Bett hier,
du musst dich nicht schämen,
du willst dir was nehmen,
und deine dunklen Augen fragen,
ob ich hungrig bin.

Nein, ich will dich nicht kränken.
Ich hab was Blödes gesagt – tut mir leid.
Hey – ich will dir was schenken!
Ich schenk uns einen Ort ganz ohne Zeit.
Da steh’n wir uns dann gegenüber,
so wie jetzt und so wie früher,
ohne uns zu berühren,
nur um uns anzuseh’n.
Ich kann nichts machen,
es ist so wie damals,
du warst mir leider immer
viel zu schön.

1984 © M.M.

IM ZENTRUM DES BÖSEN

Ein Nachmittag im Intercity.
Alles ist so pretty.
Die Kipplehne kippt,
der Lichtschalter schaltet.
Das Fahrplanheft sagt:
Noch zwei Stunden bis Frankfurt.
Ich fühl mich so wichtig,
so richtig ohnmächtig.
Die Kirchtürme türmen,
die Schrottplätze schrotten,
die Landschaft landet.
Krisenstabsfeeling.
Trennscheibenfeeling.
Berge und Flüsse zieh’n sich die Haut ab
und seh’n bezaubernd aus.
Ich will nur dösen,
hab grad gelesen,
da stand,
wir sind im Zentrum des Bösen.
Und ‘n kleiner Junge spielt mit dem Lehm einer Pfütze.
Da drüben die Eiche,
das könnte der Baum sein,
an den sich Holger Börner gelehnt hat,
als er mit den Grünen ins Geschäft kam.
Und da in dem Wäldchen
sind Terroristen verblutet,
und nachher ist dort Karl Carstens gewandert.
Alles so pretty
im Intercity,
so nitty gritty
im Intercity.
Ich will nur dösen.
Was ist denn gewesen
im Zentrum des Bösen?
Ich schau eigentlich sehr gern durch die getönten Scheiben.
Ich glaub, ich hab es gut getroffen.
Ich will hier nicht mehr raus!
Ich war niemals ängstlich,
wenn es wirklich gefährlich wurde.
Ich dachte immer: Die Welt ist eine Erfindung der anderen,
und mir wird nichts gescheh’n.
Warum denk ich jetzt,
zwischen Fulda und Hanau,
zum ersten Mal:
Vielleicht hab ich das Ganze erfunden?
Wie der kleine Junge aus der Pfütze seine Welt macht.
Weltmacht!
Immer nur dösen,
das soll dich erlösen.
Dösen und dösen.
Das soll dich erlösen im Zentrum des Bösen.
Dösen und dösen und dösen.
Na gut, na gut, na gut.

1984 © M.M.

GIB MIR DEINE ZIGARETTE

Da ist der Park, da ist das Teehaus und der Lotosteich,
um den die Weiden steh’n.
Dort, wo am Tag die Omas vom Schneewalzer träumen
und die kleinen Mädchen Kinderwägen dreh’n.
Im Staub der Nacht steh’n da die Männer,
als wenn sie sich nicht seh’n.
Da geh’n sie lässig umeinander rum und warten,
und der eine sagt zum anderen:

Gib mir deine Zigarette,
ich zünd meine daran an,
und sag sonst nichts,
und frag sonst nichts,
oh, Mann.

Gleichzeitig am andern Ende der Welt
sieht ein Fischer die Morgennebel zieh’n,
und er sagt dem Jungen, der die Netze hält:
Komm, lass den Kram doch noch ‘n Weilchen steh’n.

Gib mir deine Zigarette,
ich zünd meine daran an,
und sag sonst nichts,
und frag sonst nichts,
oh, Mann.

Irgendwo sitzt da ein Sohn vor seinem Vater,
und sie schau’n sich an und finden sich so schön.
Und ein Richter wirft die Robe ab
und wird Lilli Marleen.
Wenn die Lichter wie ein Kreis sind um die Stadt,
und ich steh so verborgen mittendrin –
Hey, hier bin ich, ohne Bett und Namen,
so wie du, so wie ein Glühwürmchen.

Gib mir deine Zigarette,
ich zünd meine daran an,
und sag sonst nichts,
und frag sonst nichts,
oh, Mann.

1975/83/84 © M.M.

FLUSSABWÄRTS

Mondlicht kam ins Zimmer,
da bin ich aufgewacht
und seh die Wolken treiben –
warum soll ich bleiben,
hab ich das je gesagt?

Es flüstert in den Bäumen.
Sucht mich jemand hier?
Das Fenster steht weit offen –
ich seh dich schlafen
und seh mich in der Tür.

Nein, ich will nicht weg von dir,
das war doch nur ein Scherz.
Immer lieg ich neben dir
und hör dein Herz.
Ich geh nur kurz spazieren,
flussabwärts.

Das Mädchen da am Hafen
mit der Rose im Mund
und den zwei neuen Pässen –
nichts hat sie vergessen
und drückt mich an die Wand.

Hey, ich seh uns an der Reling,
wenn der Wind die Wellen schlägt,
und sie sagt: es ist für lange,
und sie nimmt mich wie ein Junge,
und das Schiff, ich glaub, es fliegt.

Nein, ich will nicht weg von dir,
das war doch nur ein Scherz.
Immer lieg ich neben dir
und hör dein Herz.
Ich bin nur kurz spazieren,
flussabwärts.

Vögel schreien in den Bäumen
und die Luft ist klamm vom Tau,
ganz frühmorgens.
Schau, der Alte mit dem Seesack,
er geht gerade,
und den Weg kennt er genau.

Schritte auf der Treppe,
und jetzt sind sie schon im Flur,
und das Fenster steht weit offen –
ich seh dich schlafen
und seh mich in der Tür.

Nein, ich will nicht weg von dir,
das war doch nur ein Scherz.
Immer lieg ich neben dir
und hör dein Herz.
Ich war nur kurz spazieren,
flussabwärts.

1984 © M.M.

LAMPEN ÜBERM MEER

Jeden Tag größer,
jeden Tag mehr.
Greif in die Luft rein,
die Luft ist leer.

Irgendwo drückt was,
irgendwas leckt.
Gleich, wenn das aufhört,
ist alles weg.

Da sind zwei Berge,
die kommen her.
Und überall funkelt es
wie Lampen überm Meer.

Hey, wohin gehst du,
wo kommst du her?
Sag mal, was siehst du?
Gefällt es dir hier?

Schon wieder die Berge,
kommen zu dir.
Und drüber ist das Lachen
wie Lampen überm Meer.

Jeden Tag größer,
jeden Tag mehr,
der Hunger im Mund
ein weitoffnes Tor,
und das Bett eine Wildnis,
die so viel verspricht.
Und das Gesicht da im Spiegel
ist noch ein fremdes Gesicht.

(Februar 84, 1988 von Hermann van Veen übernommen)

WECHSELGELD

Hörst du?
Besser, du hörst mir zu.
Am besten, du kommst mit!

Was willst du mit dem Vorrat?
Im Haus knistern die Scheine,
im Haus knistern die Balken,
mach deine kleine Faust zu,
du hast noch Wechselgeld.
Hörst du?

Der Frost ist in den Scheiben,
die Sonne leckt den Schnee weg,
und niemand auf der Straße
ist irgendwie verwundert.
Nimm mich in deine Tasche,
ich sag dir, wo es lang geht,
ich bin dein Wechselgeld.
Am besten, du kommst mit.
So viele Länder,
so viele Hände
mit noch mehr Fingern.
Wir sind in jeder Währung.
Hörst du?
Am besten, du kommst mit.

Johannes ging nach Süden,
und Markus ging nach Norden.
Sie konnten plötzlich alle Sprachen,
so leicht war es geworden.
So eine leichte Beute.

Ich sprech mit deiner Zunge,
ich bin in deiner Tasche,
hörst du?
Da ist ein Zucken in den Gliedern,
die Sonne leckt den Schnee weg
und die Risse in den Tagen,
die kannst du jetzt vergessen.
Du bist das Wechselgeld.

Durch so viele Länder,
in jeder Währung,
durch so viele Hände,
und keiner, der dich aufhält.
Schau mal, die Alte mit der Tasche
streckt ihren Arm aus,
sie heißt Blixa
und wartet auf Wechselgeld,
sie ist vollkommen ahnungslos,
sie wird dir sagen, wo es langgeht.
Am besten, du kommst mit!

Markus und Johannes
trafen sich nie wieder.
Sie liefen auf der Erde
wie zwei wunderbare Fremde.

Februar 84, © M.M.

FRÜHER (Konzert-Intro)

Früher sah’n die Jungs wie Mädchen aus,
jetzt seh’n die Mädchen aus wie Männer.
Früher kam noch was aus den Gesprächen raus,
irgendwie wird alles immer schlimmer.

Früher gabs noch wirklich gute Filme,
früher war’n die Jobs noch wirklich schwer.
Früher war ein Kuß noch die Erfüllung meiner Träume,
und jetzt bestenfalls der Kuß hinterher.

Schon als ich ankam, hab ich mir gedacht:
Die treiben etwas zu viel Aufwand hier,
schau dir alles an, schau zu, wie man es macht,
aber laß bloß immer einen Fuß in der Tür.

Früher war die Welt ‘ne weite Straße,
und was ist jetzt? Weltweiter Verkehr.
Und die Männer sehn auf einmal alle aus wie alte Kinder
und reden stundenlang von früher mit mir.

April 84, © M.M.

MORGEN IS’ N NEUER TAG (Variation)

Ich bin unterwegs um zu wachsen,
will was zu essen und ‘n bißchen Gras,
und Leute, die nicht verschwinden
hinter Masken aus höflichem Haß,
und dann und wann jemand, der funkelt
und mich streichelt, so aus Spaß.
Mit mir soll niemand rechnen,
morgen is ‘n neuer Tag.

Wir kamen in ‘ne Betonstadt mit Bunkern und Spiegelcafés,
kein Platz für Leute wie dich und mich, alle Frauen trugen Toupees.
Ein paar von uns wurden hektisch, als hätten wir ‘n Bankraub gemacht,
und wir suchten bloß jemand, der nett ist und gibt uns ne Couch für die Nacht.

Ich lief zu lange geduckt rum und träumte aus Angst von Macht.
Schrieb eine ganze Schublade voll, gab mir selbst Interviews in der Nacht.
Und selbst den Leuten, die mich mochten, hab ich eins nie geglaubt,
daß man von ihnen was freiwillig kriegt, etwas, das man nicht raubt.

Ich denk an meinen besten Freund, den hab ich noch immer lieb,
wir spielten uns viele Rollen vor, Tänzer, Therapeut und Dieb,
und die Bäume verlieren die Blätter, und das Haus verliert sein Dach,
und einer von uns fragt den andern: Na, hab ich das nicht gesagt?

Ich bin noch lang nicht so frei, wie ich tu, ich seh wohl auch nie danach aus.
Ich verkriech mich ins Bett mit dem Telefon und verhalt mich dort still wie ‘ne Maus.
Und ich spür, wie die Tage mich falten, daß ich rissig werd wie’n Blatt Papier
in überheizten Archiven. Was will ich hier?

Letzten Winter ging’s mir dreckig, Matsch im Kopf und Eis im Schoß.
Ich dachte: Mädchen, wer versteht mich so wie du, komm, wir fliegen erstmal los!
Aber wenn wir uns wirklich verstehen, dann müßten wir jetzt auseinandergehn,
denn wir müssen wohl alles verlieren, um alles neu wieder zu sehn…

Wir kamen in die Betonstadt, und die Leute starrten uns an,
wir waren uns damals so sicher, daß nichts uns halten kann.
Aber der einzige, der wirklich frei ist, das ist der ungebetene Gast –
wenn du dich gelegentlich im Spiegel siehst, dann frag dich, ob du davon noch was hast…

Du bist unterwegs, um zu wachsen

Frühjahr 84, © M.M.

RAND DER WELT

Hand in Hand in einem heißen Wind
ganz am Rand der Welt.
Unsre Spur führt durch den weißen Sand,
und die Sonne fällt.

Frag nicht, wieviel Zeit ich hab,
sag nicht: Was ist dann.
Wie ein Schatten stehst du über mir,
und ich schau dich an.

Abendrot am Horizont
brennt in deinem Haar.
Komm mit mir dorthin, wo keiner wohnt,
wo noch niemand war.

April 84, für Spliff, © M.M.

WENN DER BERG SICH BEWEGT

Es ist kühl auf der Terrasse abends,
Weinranken unterm Halbmond.
Die Dame mit dem Sonnenglas fixiert mich,
als wär ich ein Geheimnis für sie.
Wie lange bin ich hier? Wochen? Tage?
Diese Nacht könnte Jahre alt sein.

Im Gebirge traf ich einen Mann,
der schlachtete ein Schaf und sah mich lange an.
Er sagte dann: Das alles, was hier wächst und blüht,
das wird ein Ende haben, wenn der Berg sich bewegt.
Ich fragte: Wann?
Er lachte: Das ist nur ein alter Fluch.
Im Tal sind die Sitten anders,
da macht die Scherze der Präsident,
so daß es nun ein Fluch geworden ist,
wenn man nur seinen Namen nennt.
Und was ist dann?

Wenn der Berg sich bewegt,
springen all die kleinen Zierfische ins Meer.
Wenn der Berg sich bewegt –
wenn wir stolz genug sind, gehn wir hinterher.
Und die Sonne ist ein trudelnder Fleck,
niemandem gilt dies Telefongespräch mehr.
Aber ich wünsch mir,
daß dein Arm sich dann noch einmal
um mich legt,
wenn der Berg sich bewegt.

Ich wär jetzt gerne bei dir,
ich glaub, du denkst an mich.
Aber da, wo ich bin, ist es gut.
Ich wollt, die Nacht wär endlos.
Und die Dame mit dem Sonnenglas kommt näher,
sie fliegt morgen nach Damaskus, das muß aufregend sein.
Aufregend wie alles auf der Welt.
Aufregend genug für einen Ausflug.

Wenn der Berg sich bewegt…

Zypern, Herbst 84, © M.M.

DER MANN MIT DER MARKE

Der Mann mit der Marke sieht so ähnlich aus wie du,
wenn er mit dir sprechen will, dann trägt er Tennisschuh,
er sitzt in deiner Stammkneipe, ein Comic in der Hand,
du trinkst sein Bier und bist schon mit dem Rücken an der Wand.
Ihr plaudert über Leute, und ihr plaudert über Stoff.
Er hört gut zu, der Mann mit der Marke.

Der Kumpel da in Leder bei den Kids am Baggersee:
Erst spendiert er Whisky, nachher ist es Schnee,
woher das Zeug gekommen ist, da sagt er keinen Ton,
die Fahndung braucht Erfolge – keiner kommt hier heil davon.
Eine Hundertschaft zum See raus, zwanzig Arbeitslose hopps,
und im Hintergrund der Mann mit der Marke.

Der Mann mit der Marke ist voll durchtrainiert,
er spielt in einem Spiel mit, das er selber nicht kapiert,
und kommt er vor Gericht, dann bleibt er stumm,
denn sein Gesetz, das sitzt im Polizeipräsidium.

Hey, da ist eine alte Villa am Stadtrand.
Da treffen sich linke Modejournalisten mit Asylanten.
Wir brauchten eine Druckerpresse, paar Waffen und einen kodierten Plan.
Wir brauchen unseren Spezialisten, er lernt gerade arabisch…

Der Mann mit der Marke hat nur ein Problem:
Fr hat es nicht gelernt, durch Wände zu gehn,
deshalb steht er manchmal hilflos vor verschlossenen Türen
und muß seinen Revolver unterm Reißverschluß entsichern.
Doch trifft er dann daneben auf ein zwölfjähriges Kind,
dann ist er immer noch der Mann mit der Marke.

Der Mann mit der Marke ist voll durchtrainiert,
er spielt ein Spiel, das er nicht kapiert.
Wenn vor Gericht, dann steht er stumm,
denn sein Gesetz kommt vom Präsidium.

Herbst 84 © M.M.

WENN DU WILLST

Als du angerufen hast, war ich schon unterwegs
und wollte noch bei dir vorbei.
Ich traf die Jungs am Flipper, und plötzlich wurd’ es dunkel,
und wir waren alle voll dabei.
Auf einmal standst du da, Arm in Arm mit diesem Blonden,
ich glaub, du hast mich gar nicht geseh’n.
Ich mag die Sorte Vorstadtcowboys nicht
und dachte bloß: Ich muß jetzt geh’n!

Wenn du willst, geb ich dir einen Kuß
zur Versöhnung zwischen dir und mir,
wenn du nicht willst, dann laß mich jetzt los,
wir stehn schon viel zu lang
hier in dem kalten Flur.

Ich war schon durch die Tür, da kam sie mir entgegen,
die Frau mit dem riesigen Hut,
die hatte eine Art, sich vor mir zu bewegen,
irgendwie fand ich das gut.
Und nachher, als sie fragte: Wer ist denn da die Kleine,
die schaut uns die ganze Zeit zu?
Da wußte ich, die einzige – na komm, du weißt, was ich meine -,
die einzige, das bist du!

Wenn du willst, geb ich dir einen Kuß…
Wenn du willst, dann verpaß ich den Bus…

Oktober 84, für Steinwolke, © M.M.

HAUS AUF DEM LAND (Zufall)

Wir liefen nachts durch eine Altstadt,
Regen und Frittenpapier,
irgendwer hat gesagt, daß hier was aufhat,
wer war das? Wir sind nur eine Nacht hier.

Wir fanden schließlich einen Laden,
die Luft war stickig und schal,
und der Mann am Klavier sang was von Bochum,
doch wir war’n leider nur in Wuppertal.

Vielleicht war’s ein Zufall,
jemand nahm meine Hand,
und eine Stimme sagte durch den Nebel:
“Ich hab’n Haus auf dem Land.”

Nachher konnte man tatsächlich richtig tanzen,
und die Nacht ging vorbei
wie viele andre Nächte vorher,
mit den gleichen Gesichtern und dem gleichen Geschrei.

Es war sicherlich ein Zufall,
da kam dauernd diese Hand,
und ich sagte durch den Nebel:
“Vergiß dein Haus auf dem Land, vergiß es.”

Tage später las ich in der Zeitung,
ein kleines Haus ist abgebrannt
zwischen Wuppertal und Essen.
Mitten auf dem Land.

Doch das war ganz bestimmt ein Zufall.

November 84, für Rosa Precht, © M.M.