AVERROES AUF DER SUCHE
DIALOG NACH EINER ERZÄHLUNG VON JORGE LUIS BORGES
1.
SIE:
Hast du nicht grad was gesagt?
ER:
Ich glaube nicht.
SIE:
Ist mir wohl nur so vorgekommen. Mir war so, als hätte hier jemand geredet.
ER:
Vielleicht: “Himbeerranken aussprechen, dir Beeren ins Ohr flüstern, die roten, die ins Moos fielen…”?
SIE:
Was soll das? Mit sowas kann ich nichts anfangen.
ER:
Vielleicht hätt ich das nur gesagt, wenn du es auch gehört hättest…
SIE:
Na, gehört hab ich was.
ER:
Aber du warst nicht offen dafür…
SIE:
Ich hab’s nicht richtig verstanden! “Himbeerranken aussprechen, dir Beeren ins Ohr flüstern” – mit so nem Schmus kann ich wirklich nichts anfangen!
ER:
Du bist nicht offen dafür. Und deshalb hab ich auch gar nichts gesagt. Aber es könnte doch sein, daß es irgendwo Leute gibt, die bei “Himbeerranken aussprechen, dir Beeren ins Ohr flüstern” sofort begreifen, was damit gemeint ist. Ich muß dir sagen, ich such solche Leute – die Eingeweihten!
SIE:
Jetzt will ich dir mal was sagen! Wir sprechen hier eine gemeinsame Sprache, wir benutzen gemeinsame Gegenstände, für die wir die gleichen Worte gebrauchen… Warum nimmst du Geheimbilder, wenn du mir etwas mitteilen willst? Sag einfach, was du zu sagen hast, und du wirst sehen: Ich versteh dich, ich kann sogar auf dich eingehen. Sogar ich bin dann eingeweiht…
ER:
Hast du jetzt grad was gesagt?
SIE:
Das ist die billige Tour, mein Lieber.
ER:
Stimmt. Aber die teure ist etwas umständlicher. Darf ich dir eine Geschichte erzählen?
SIE:
Über Geheimsprachen?
ER:
Über jemanden, der nicht offen sein konnte. Warte, ich hol das Buch…
2.
ER:
Spanien, Andalusien im zwölften Jahrhundert. Die Araber haben das Land besetzt. Von Mekka aus sind sie rund um das südliche Mittelmeer gezogen, haben sich Burgen gebaut, die Häfen gesichert, und sie verbreiten Allahs Lehre unter den Ungläubigen, den Koran. Es sind viele Schriftgelehrte dabei – die Araber jener Zeit lieben es, sich die heiligen Schriften immer neu auszulegen -, aber sie haben auch noch ganz andere Sachen mit im Gepäck. Die Bücher des Aristoteles zum Beispiel, aus der Bibliothek von Alexandria auf Griechisch, Aristu nennen sie ihn – nur durch die Überlieferung dieser mittelalterlichen Araber kennen wir übrigens heute noch Aristoteles.
Averroes heißt der Mann, von dem die Geschichte erzählt. Er ist eigentlich Arzt, aber er studiert auch den Aristu und schreibt seine eigenen Kommentare dazu. “Schwerlich kennt die Geschichte etwas Schöneres und Bewegenderes als diese Hingabe eines arabischen Arztes an die Gedanken eines Menschen, von dem ihn vierzehn Jahrhunderte trennen.” An dem Tag, wo das Ganze spielt, sitzt Averroes in seinem Haus in Cordoba und arbeitet. Jetzt lies mal vor!
SIE:
“Er schrieb mit sicherer Gelassenheit, von rechts nach links; seine Gewandheit im Aufstellen von Syllogismen und im Aneinanderreihen weitläufiger Paragraphen hinderte ihn nicht, die kühle Tiefe des Hauses, das ihn umgab, wohltuend zu empfinden. Am Grund der Mittagsstille gurrten sich verliebte Tauben heiser; aus einem unsichtbaren Hof stieg das Geplätscher eines Brunnens herauf. Etwas, das Averroes im Blut lag – seine Vorfahren stammten aus der arabischen Wüste -, empfand Wohlgefallen an der Beständigkeit des Wassers. (…) Rundum – auch dies empfand Averroes – breitete sich bis an den Horizont die Erde Spaniens, auf der es nur wenige Dinge gibt, wo aber jedes einzelne vollkräftig und wie für immer dazustehen scheint.”
ER:
Averroes hat ein Problem. Er kennt fast alles, was in seiner Umgebung geredet, gedacht und geschrieben wird, er kann sich z.B. elegant mit den Höflingen und den Gelehrten über die Frage streiten, ob der Koran eine Kunst sei – von Gott inspiriert, aber von Menschenhand aufgeschrieben -, oder ist der Koran eine göttliche Substanz, höher als die Natur und den Menschen von Gott nur geliehen? Averroes hochgebildeten Kopf sind fast alle Quellen zugänglich, die es damals gab – aber da hat er bei Aristoteles immer wieder zwei Begriffe gelesen, mit denen er absolut nichts anfangen kann: Tragödie und Komödie. Schon am Anfang der Poetik‘ des Aristu kommen sie vor. “Kein Mensch im Umkreis des Islam hatte eine Ahnung, was sie bedeuten sollten.” Man kennt das nicht, was sich dahinter verbirgt: Das miteinander Theaterspielen, ein Drama aufführen. Tragödie und Komödie, was kann das nur sein?
Averroes tut das einzig Richtige:
SIE:
“Er ließ die Feder sinken. Er sagte sich (ohne allzu große Zuversicht), daß das, was wir suchen, meistens ganz nah ist.”
ER:
Aber als Büchermensch sucht er den Zufall in einem Regal, er blättert aufs Gratewohl in einem wertvollen Band, will nur einen Moment abschalten…
SIE:
“…(da) lenkte ihn eine Art Melodie ab. Er warf einen Blick durch den vergitterten Balkon; drunten, auf dem schmalen ungepflasterten Hof, spielten ein paar halbnackte Bürschchen. Der eine, auf den Schultern des anderen kniend, machte offensichtlich den Muezzin nach; mit festgeschlossenen Augen psalmodierte er: Es ist kein anderer Gott außer Gott‘. Der andere, der ihn bewegungslos im Gleichgewicht hielt, spielte das Minarett; ein dritter, der demutsvoll im Staub kauerte, stellte die Gemeinde der Gläubigen dar.”
ER:
Averroes sieht das alles nur aus den Augenwinkeln. Es hat für ihn keine Bedeutung. Dumme Jungen da draußen – aber Tragödie und Komödie, was kann das nur sein, denkt er wieder.
SIE:
“Das Spiel währte nur kurz; alle wollten der Muezzin sein, keiner die Gemeinde oder der Turm. Averroes hörte sie in ungeschliffener Mundart miteinander zanken, dem frühen Spanisch des niederen muselmanischen Volkes (…). Er schlug den Qitab ul ain‘ von Jalil auf und gefiel sich in dem stolzen Gedanken, daß es in ganz Cordoba keine andere Abschrift des vollkommenen Werkes gab als diese hier…”
3.
SIE:
Ich kenne diese Geschichte. Sie ist von einem Mann namens Borges.
ER:
Jorge Luis Borges, argentinischer Dichter und Bibliothekar. Ist das nicht toll beschrieben, wie hier Averroes, der kluge Gelehrte, sich in ein Buch zurückflüchtet, während neben ihm genau das passiert, wonach er gesucht hat?
SIE:
Im Alter fast blind, dieser Borges. Es geht fast immer um Bücher und Schriften in seinen Geschichten. Geheime Zeichen – Archive und Bibliotheken müssen für ihn ungeheuer spannend gewesen sein. Wie die Welt geschrieben worden ist. Etwas anderes ist ja kaum übrig von der Vergangenheit. Ein großes Vorbild für Umberto Eco.
ER:
Und deshalb kann man jetzt sogar sagen, dieser Borges kommt im Film vor. Er selbst hätte das wahrscheinlich ziemlich schrecklich gefunden. Aber der blinde Mönch in der Klosterbibliothek von Der Name der Rose‘ – der Teuflische -, der heißt auch Jorge, und man sagt, Umberto Eco hätte hier seinem Vorbild ein Denkmal gesetzt.
SIE:
Jedenfalls hast du jetzt grad ein bescheidenes Gedankenbändchen von Aristoteles bis zur modernen Filmindustrie gezogen. Die ganze Weltliteratur als ein wildes Spiel, alles verfügbar, alles wird möglich…
ER:
… und früher war alles immer so furchtbar begrenzt, jede Kultur hatte blinde Flecken – wenn man nicht wirklich offen ist, kann man nie richtig eingeweiht werden… Gibst du mir recht?
SIE:
“Himbeerranken aussprechen, dir Beeren ins Ohr flüstern” – meinst du sowas damit? Ich glaube, du mißbrauchst die Geschichte jetzt etwas, diesen hübschen Einfall des gebildeten Jorge Luis Borges aus Argentinien, der vor ein paar Jahren starb.
ER:
Dann laß uns weiter lesen.
SIE:
Zurück nach Spanien, ins arabische Mittelalter – ganz nah bei Hollywood…
4.
ER:
Am Abend jenes Tages, von dem wir erzählt haben, erhält der gelehrte Averroes eine zweite Chance, den Begriffen der Tragödie und der Komödie auf die Spur zu kommen. Ins Haus eines Koranlehrers ist eine große Gesellschaft geladen; ein Reisender, der gerade im fernen Kanton gewesen ist, prahlt mit seinen Erlebnissen. Man habe ihn dort in ein Haus geführt mit Vertiefungen, in denen Besucher gesessen seien, und andere Besucher hätten auf dem Boden gehockt oder auf einer Terrasse…
SIE:
“‘…(und) die Personen auf dieser Terrasse schlugen die Trommeln ( …), ausgenommen etwa fünfzehn bis zwanzig Figuren mit scharlachroten Masken, die vorbeteten oder sangen und Zwiegespräche führten.'”
ER:
So erzählt der Reisende etwas wirr und beschreibt Dinge,die den Anwesenden ziemlich seltsam sind:
SIE:
“‘(Die Figuren auf der Terrasse) litten Gefangenschaft, aber ein Kerker war nicht zu sehen; sie ritten, aber das Pferd war nicht zu sehen; sie fochten, aber die Degen waren aus Rohr; sie starben und standen danach wieder auf.'”
ER:
“Das Treiben der Narren”, ruft der Koranlehrer und Gastgeber ver-gnügt, “übertrifft die Voraussicht der Vernünftigen.”
SIE:
“Es waren (aber) keine Narren”, widerspricht der Reisende ratlos, “sie stellten etwas dar – eine Geschichte…”
ER:
Niemand in der gelehrten Gesellschaft versteht, was er damit sagen will. Wozu mit solchem Aufwand eine Geschichte hervorbringen? Averroes, dem noch immer die Tragödie und die Komödie im Kopf herumspuken, hört still zu – während der Reisende sein Erlebnis jetzt unbedingt ausspinnen will.
SIE:
“Stellen wir uns vor: jemand zeigt eine Geschichte vor, anstatt sie zu erzählen. Meinetwegen die Geschichte von den Schläfern zu Ephesus. Wir sehen sie in die Höhle kriechen, wir sehen sie beten und schlafen (…), wir sehen sie nach dreihundertneun Jahren wieder aufwachen(…), wir sehen sie im Paradies. Etwas von der Art zeigten an jenem Abend die Leute auf der Terrasse (in Kanton)…‘”
ER:
“Sprachen denn diese Personen?” fragt listig der Koranlehrer.
SIE:
“‘Und ob'”, ruft der Reisende, der sich (jetzt) bemüßigt fühlt, eine Darbietung in Schutz zu nehmen, an die er sich kaum noch erinnert und die ihn damals erheblich gelangweilt hat. “‘Sie sprachen und sangen – und deklamierten.'”
ER:
“In diesem Fall”, so faßt der Koranlehrer den Bericht aus der Ferne mit großer Selbstsicherheit zusammen, “in diesem Fall waren keine zwanzig Personen vonnöten. Ein einziger Sprecher (hätte) genügt, um was es auch sei zu erzählen, mag es auch noch so verwickelt sein.”
5.
SIE:
“Und alle stimmten diesem Ausspruch zu. Man rühmte die Vorzüge des Arabischen, der Sprache, deren Gott sich zur Unterweisung der Engel bedient…”
Und das ist wahrscheinlich für dich der Clou der Geschichte!: Wie sich da ein engstirniger Meinungsführer entlarvt, ein selbstgefälliger Dog-matiker, ein Koranlehrer, wie sie noch heute in Duzendware herum-laufen…
ER:
Ja, genau! Jemandem wie dem großen Averroes haben es solche Leute unmöglich gemacht, den Sinn des Spielens zu verstehen, Tragödie und Komödie – er hat diese urmenschlichen Fähigkeiten nie richtig begrif-fen, diese selbstverständlichen Geschenke… Er ist nicht eingeweiht worden!
SIE:
Moment. In unsrer Geschichte heißt es aber: “Die Muezzin riefen zur ersten Gebetsstunde (…). Und etwas hatte (Averroes) den Sinn der beiden dunklen Worte aufgeschlossen. Mit fester und sorgfältiger Schönheit fügte er dem Manuskript ein paar Zeilen hinzu…”
ER:
Ja, aber wie er sie dann definiert hat, Komödie und Tragödie – das ist doch völlig falsch, von heute her!
SIE:
Ganz egal. In seinem Kopf waren die Jungs, die gespielt haben, war der Reisende, der erzählt hat… und etwas hat sich ihm dadurch verdichtet. Unverwechselbar. Wissen wir heute mehr von den Dingen?
ER:
Wir kennen immerhin die Poetik des Aristoteles. Wir verstehen sogar, wie arabische Gelehrte im Mittelalter gedacht haben. Nicht zuletzt durch jemanden wie den Borges. Wir können das alles sogar noch abrufen, mit Querverbindungen in Enzyklopädien oder im Internet…
SIE:
Offen für die ganze Welt, denkst du? “Ich blas dir Himbeerranken ins Ohr, leck du mir die Beeren von der gerollten Zunge”? Dann lies mal das Ende von unsrer Geschichte – Jorge Luis Borges im Originalton. Komm hier, ab der Stelle…
ER:
“(Ich) wollte den Vorgang eines Scheiterns darstellen. (Mir) fiel ein, daß es dichterisch(…) sei, den Fall eines Menschen zu schildern, der sich ein Ziel steckt, das zu erreichen anderen nicht versagt ist, wohl aber ihm. Ich dachte an Averroes, der, befangen im Umkreis des Islam, nie die Bedeutung der Worte Tragödie und Komödie wissen konnte.” Das ha‘m wir verstanden – jetzt du!
SIE:
“Ich erzählte den Fall; je weiter ich kam, umso mehr hatte ich das Gefühl, wie es jener Gott gehabt haben mag, der sich vornahm, einen Stier zu erschaffen und einen Büffel erschuf.” Heute machen sie aus Lamas und Kamelen ein Mischwesen. “Ich fühlte, wie das Werk meiner spottete.”
Jetzt wieder du!
ER:
“Ich fühlte, wie Averroes, als er sich vorzustellen versuchte, was ein Drama sei, ohne eine Ahnung vom Theater zu haben, nicht absurder war als ich, der ich mir Averroes vorzustellen versuchte, ohne ein Material als ein paar Schwarten (über die Zeit, in der er gelebt hat)…”
SIE:
Schön, daß es solche Schriftsteller noch manchmal gibt! Die wirklich eingeweiht sind. Die mit dem Schreiben erfahren, daß wir woanders sind – aber nicht weiter, trotz Hollywood…
ER:
Gewitzter vielleicht, das sind wir aber geworden. Ist das nicht auch ein Fortschritt?
SIE:
Vielleicht.
6.
ER:
Wolltest du grad noch was sagen?
SIE:
Ich glaube nicht.
ER:
Mir war so, als hätte hier jemand geredet.
SIE:
Vielleicht: “Dir süße Brandbomben auf die Handflächen legen, dich mit dem Lötkolben unter der Zunge gewogener machen…”?
ER:
Damit kann ich nun überhaupt nichts anfangen, tut mir leid.
SIE:
Und deshalb hab ichs wohl besser auch gar nicht gesagt.
Alle Zitate und Paraphrasierungen aus ‘Averroes auf der Suche’, in: Jorge Luis Borges, Sämtliche Erzählungen, München 1970, S. 68 – 75.
© für diesen Text Manfred Maurenbrecher 1998