Bob Dylan – Volkssänger

BOB DYLAN – VOLKSSÄNGER

“You’ve gotta get away from America in order to make anything stick. America will just bombard you with too much shit. You have to make a conscious attempt to stay away from all the garbage. Whereas in the past, I don’t remember ever having to make a cons-cious attempt to stay away from anything. You could just walk away, you know? Now, you walk away, it gets you no matter where you are.”
(
B.D. in einem Interview 1987)

Dies sind ein paar Gedanken zum – wette ich – größten Liedersänger und – erfinder unserer Tage, Nachfahr von Einwanderern aus Russland, dem Amerikaner Bob Dylan, letztes Jahr 60 geworden.

Als sich im Januar 1988 die Chosen Few der amerikanischen Popmusik im New Yorker Waldorf-Astoria-Hotel einmal mehr feierten, indem sie Bob Dylan (und den Beach Boys) einen Lebenswerk-Preis verliehen, da sagte Bruce Springsteen in seiner Laudatio zu seinem Vorbild: “Ich wäre nicht, wo ich bin, ohne dich”. Ganz ähnlich hat sich siebenundzwanzig Jahre vorher der junge Mittelschichts-Ausreißer aus dem hohen Norden seinem Idol, dem Arbeitersänger und wandernden Poeten eines anderen Amerika, Woody Guthrie, in einem Krankenhaus bei New York anvertraut: “Hey Woody Guthrie, ich weiß, dass du alles weißt, was ich weiß, und doch noch so manches mehr…” Der alte Pete Seeger gab im Waldorf-Astoria dem Gedanken die Form: “Wenn wir erkennen, daß wir nichts weiter sind als Glieder einer langen, langen Kette, dann, bei Gott, wird die Kette weiter wachsen. Und die Leute, die mit ihren verdammten Atomwaffen und den verdammten toxischen Giften die Menschheit von der Landkarte wischen wollen, werden doch noch genarrt. Denn Liebe und Musik bringen uns zusammen.” Da war er wieder: Verführerischer, gerne gleich praktisch werdender amerikanischer Idealismus, oft verlacht – aber ohne ihn herrscht Zynismus – und mit ihm? Der Weg von This Land is My Land zu We are the World ist nicht allzu weit.

1988 liegt in Bob Dylans Biografie genau zwischen seiner unüberzeugten Mitwirkung an jener weltweiten Charity-Aktion der Chosen Few, die Geld aufbringen sollte für notleidende Afrikaner und sich grandios selbst feierte – Phil Collins jettete zu dem Zweck einsam in einer Concorde zwischen London und New York hin und her – und einer weiteren Lebenswerk- Belohnung für Dylan von 1991, wo er in schön derangiertem Zustand eine hellwache Kurzrede hinlegte und danach mit seiner Schrottband ein hässliches, stechendes Masters of War – mitten im Golfkrieg einen Todesfluch auf die Regierenden, Terrorakt beim Fest.

Noch einmal zwölf Jahre später, also ungefähr jetzt, lässt der Meister diesen Abend in einem Interview beinah heiter an sich vorbeiziehen und weist im übrigen darauf hin, er habe schließlich seit langem Lieder für jede Gelegenheit auf Lager, und sein Masters of War sei beileibe nie als pazifistisches Antikriegs-Lied gemeint gewesen, es habe stattdessen aber einiges mit dem militärisch-industriellen Komplex der Eisenhower-Zeit zu tun. Also jener Epoche, die Leute wie Woody Guthrie so gerne zu vaterlandslosen Gesellen gestempelt hätte. Woody Guthrie, der sowohl glühender amerikanischer Patriot als auch Radikalsozialist mit der Aufschrift This Machine Kills auf seiner Gitarre als auch ein naives Kinderliedergenie und ein Bewunderer Josef Stalins sein konnte. Darin hat ihn dann sein Schüler (“But he’s got a voice”, stellte die schwerkranke Legende angeblich über den zappeligen jungen Verehrer fest, der sich da am Krankenhausbett in den Kreis der geistigen Erben gemischt hatte) noch weit übertroffen: In der Fähigkeit nämlich, immer wieder neu ganz vieles auch sein zu können. Das unterscheidet beide gewiss von Bruce Springsteen – wie von so vielen, die guten Willens sind, aber dabei die Absichtserklärung mit dem Lied selbst verwechseln, die nicht das Risiko lieben, sondern das Programm dazu. Die keine Volkssänger sind.

(Das Programm dazu: “The very last thing that I’d want to do is to say, I’ve been hit some hard travelling, too”, so endet Dylans erstes eigenes veröffentlichtes Lied, Song to Woody, und spätestens seit dem sogenannten BobFest, der Feier zum dreißigjährigen Bühnenjubiläum 1992 – man kommt bei Dylan um Jubelanlässe nicht herum -, treiben diese Zeilen manchmal jemand Tränen in die Augen, wenn sie jedesmal wieder anders erklingen: 92 noch ätzend, mitten im schweren Wetter der verloren gehenden Stimme und Lebenskrise, dann bisweilen leichtweg, jetzt manchmal schon wie von hinterher, wie von einem, der es gewusst haben kann, so sicher einmal angekommen zu sein – was natürlich Unsinn ist, man weiß es vorher nie. Genau der Anlaß, es zu versuchen.)

Was ist ein Volkssänger? “Die Leute, die ich kannte (…), wollten folk musicians sein. Das ist alles, was sie wollten (…). Da steckte kein Geldwunsch dahinter, es war kein Geld zu finden darin. Es war eine Lebensform. Und eine Identität, die die Dreireiher-Generation der Nachkriegszeit uns Jugendlichen nicht bot: Diese Musik gab es unmöglich irgendwo zu kaufen. (…) Und was mich vierundzwanzig Stunden am Tag umtrieb, war dabei die ländliche Musik. Aber die konntest du nur in sowas wie isolierten Höhlen kennenlernen, in sowas wie ein paar Bohemiengassen im Amerika jener Tage. Die Idee war es, diese Lieder einmal meistern zu können. Es ging überhaupt nicht darum, selber Lieder zu schreiben. Das wäre einem überhaupt nicht in den Sinn gekommen.” (B.D. im Gespräch mit Mikal Gilmore, Rolling Stone, Nov.2001)

Man hat die Wurzeln, die zur Musik der Generation Dylans, der Stones, Velvet Undergrounds usw. im angloamerkanischen Raum geführt haben, in den letzten Jahren gründlich freigelegt – mittlerweile gibt es vom kleinen sachdienlichen Hinweis über die enzyklopädische Annäherung bis hin zur wuchernden Theorie (etwa bei Greil Marcus, ‘Basement Blues’) im Internet so ziemlich alles festgehalten, was sich verzweigt hat, und so läßt sich z.B. die 150 Jahre lange Verwandlung einer Formulierung aus einem anonymen Blues in einen Jazzstandard, über ein Musical-Couplet in einen Doo-Wop-Song der späten 50ger, in ein Protestlied und von dort in ein digitales Remake, das dem Original täuschend nahekommt, durch jemand wie z.B. Natalie Cole, elegant nachzeichnen. Anfang der Sechziger war es erst der Zipfel der Decke über dem Geheimnis, der gelüftet wurde: Nicht nur die intellektuellen Beatniks oder die sozialromantischen linken Spinner, sondern die gerade mal wegsterbenden Proll-Sänger aus den Dreißigern, zwischen Jazz, Polka und irischer Hymne, die schwarzen Blueser und weißen Rapoden mit ihren ordinären Reimen und dem heftigen Erlösungsglauben, die mit den Schuldscheinen und zerschossenen Windschutzscheiben, mit zwei Frauen auf den Knien und einem abgetriebenen Fötus in der Mülltonne – die hatten was zu erzählen. Die wurden für die stille, ein bißchen elitäre College-Jugend das Vorbild. Ihre ländlich schrille, schräge Musik war gerade unlängst gründlich archiviert worden – akkustische Feldforschung, die dann unvermutet den Kult freisetzte. Noch heute dankt Dylan, wenn die Gelegenheit sich ergibt, den sozialromantischen Pfadfindern von damals, dem Sammler Alan Lomax, dem Exzentriker Harry Smith – aber weist auch darauf hin, daß es natürlich vor der Entdeckung durch die Feldforscher auch einen Markt für jene Musik gegeben hat, dass sie da war in ihren lokalen Grenzen, dass Musiker wie Blind Willie Mc Tell, Charlie Patton, Doc Watson, Elisabeth Cotton zu sehen, zu buchen und greifbar gewesen sind. Fahrende Musikanten in den Wechselfällen des Lebens (man erfährt über einige dieser großen Kollegen viel Interesantes in Michael Greys Buch: The Art of Bob Dylan, dritte Fassung), Alleinunterhalter, Leute mit Liedern für jede Gelegenheit, mit Stanzerln, verliebter Suggestion und Todesschwärze. Eigentlich ungeeignet für labels, politische Ettiketten, die man natürlich versucht hat, hinterher aufzupappen – die Feldforscher standen meist links, die Produzenten – soweit es um Countrymusik ging – eher rechts.

Daß Dylan selbst es vorzog, die rural music als ein Geheimnis von wenigen – ein bißchen einem Orden gleich – zu behandeln, an dem man die eigene handwerkliche Könnerschaft messen und mit dessen Lebensgeist man die eigenen existentiellen Aufschwünge vertiefen konnte – das ist im Trubel der Ereignisse erstmal untergegangen. Hört man Bob Dylan, seine erste LP von 1961, und The Freewheelin Bob Dylan, Anfang 63 erschienen, steht man zweimal einer ganz anderen persona gegenüber. Der Scholar der Tradition wurde in anderthalb Jahren zum Autor, ein todesverbundener Zwanzigjähriger im Kostum eines alten Bluesers wurde zum weltklugen Überlebenspoeten in der Rolle des lyrischen Jünglings. Zwischen See that my Grave is Kept Clean und A Hard Rain’s A Gonna Fall ist ein Unterschied wie (um einen einheimischen Vergleich zu finden) zwischen Nestroy und Celan (es gibt den einheimischen Vergleich aber eigentlich nicht, weil es in der deutschen Volksmusik die Schärfe des Blues nicht gibt). Man hat die Weiterentwicklung des jungen Dylan immer als einen Fortschritt gesehen – die Politisierung, die er ja ganz selbstverständlich wie die meisten seiner Generation vollzog, Vietnam-Gegnerschaft, Kampagnen für Rassengleichheit, Kampf gegen die Entfremdung. Später hat man es für Zynismus gehalten, daß Dylan (bereits Popstar und immer noch unter 25) über seine frühen Lieder wie Blowing in the Wind sagte, er habe sie doch nur geschrieben, um sich auch unter städtischen Intellektuellen Gehör zu verschaffen, sein Publikum zu vergrößern, und außerdem habe das in der Luft gelegen – es ist aber wahr. In dem Augenblick – die Wette gilt – wo Bob Dylan zum Autor geworden ist im Bewußtsein, nicht nur etwas zu gewinnen, sondern zugunsten des Geheimnisses auch etwas zu verlassen, nämlich jene halb verborgene ländlich wilde Musik zu jeder Gelegenheit, das existentielle Spiel – vielleicht, um es reiner betreiben zu können -, in dem Moment war er Volkssänger. Vorher nicht, als purer Traditionalist nicht – und nur als ’Liedermacher’, nämlich Autor, der sich vertont, auch nicht.

Ab jetzt spätestens – mit dem immer persönlicher, schräger, eigentümlicher und umfassender sich entwickelnden Komponisten und Liederschreiber Bob Dylan, der eigentlich wegen des Singens allein angefangen hatte – ist zu unterscheiden zwischen jenem offiziellen Amerika der eingemeindenden weltweiten Gleichmacherkultur und den hochoffiziellen Partisanen, von denen Dylan der esoterischste und zugleich der öffentlichste gewesen ist, der die verborgene Volksmusik pflegt, indem er sie umtreibt, verwandelt, sich aneignet – modernisiert. “Folk music ist, wo es alles beginnt und auf viele Arten auch endet. Wenn dir diese Grundlage fehlt, du über kein Wissen darin verfügst und deshalb auch nicht weißt, wie du es kontrollieren könntest, wenn du dich nicht geschichtlich gebunden weißt, dann wird deine Sache nur halb so stark sein wie möglich.” (B.D.2001) Modernisieren heißt die Substanz wahren. Die Regeln des Ordens befolgen und weitergeben. Das falsche, das ‘One World’-Amerika frißt stattdessen Substanz. Die Übergänge sind, wie immer, fließend. “Es gab mal eine Zeit, als Heldentum noch was zählte. Zu den gemeinsamen Grunderfahrungen Heranwachsender gehörte früher, daß sie dieselben Mythen, Legenden und Ideale kannten. Heute gehört zu ihren gemeinsamen Grunderfahrungen, daß sie McDonalds und Disneyland kennen.” (B.D. 1991, zur Los Angeles Times)

Bob Dylan, der Popstar, Rocker, Countryehemann, Balladier und Gospelevangelist – in ca. 40 Jahren hat er die naheliegenden Grenzen der angloamerikanischen Unterhaltungsmusik, die weltweite Geltung beansprucht spätestens seit dem zweiten Weltkrieg, umkreist. Jazz ist möglicherweise das Rätsel, dem er sich nur intellektuell nähert (es gibt aber eine wunderschön bescheidene, mutige Solointerpretation von 87 des Liedes Soon von George Gerswhin anläßlich einer Gala zu dessen Ehren – Dylan mitten zwischen all den hochausgebildeten Sängerinnen und Orchesterkapazitäten, allein im großen Rund mit seiner Gitarre und mit ratlosem Beifall bedacht anschließend – für die Musikfachwelt, die Elite der U-Branche schon ein Unikum, dieser Typ mit dem ungepflegten Haar. Gershwin übrigens, zwei Generationen vorher, war auch ein Sohn, dessen jüdische Eltern aus Rußland kamen).

Er ist mehrmals zum Nobelpreis vorgeschlagen worden. Es gibt die Spuren von zahlreichen angloamerikanischen Dichtern seit dem Mittelalter in seinen über 5oo Liedern (Nachweise in Buchform füllen ein Regal). Die Spur der Bibel ist dahinter noch stärker, wobei die alttestamentarische Seite letztlich überwiegt. Dylan, der Wortkünstler, ist aber für meinen Gedankengang hier nicht wichtig. Die Bemerkung soll reichen, daß es wohl ein kleines Wunder gewesen ist, wie schnell jemand, der eigentlich nur perfekt in einem bestimmten entlegenen Stil sein (=singen & spielen = leben) wollte, Worte für die Zusammenhänge und kollektiven Gefühle gefunden hat – die in der Luft lagen -, in denen mehr Sinn enthalten war als in allem Vergleichbaren, der also konkurrenzlos ungeübt an die Spitze aller Liedautoren gefunden hat und von dort aus (seit 1962) lange Zeit meist nur noch besser geworden ist auf dem Gebiet.

Für meinen Gedankengang wichtiger: Immer, wenn Dylan an eine privat-sprachliche Grenze stieß – 1966 nach der drogengeknebelten Elektrifizie-rungswelttournee und jenen Gedicht-Liedern dafür, die von Bild zu Bild trudeln ohne ein anderes Ziel, als die Zeit zu verlangsamen (“nichts auf der Welt ist eindringlicher als ein direkt überm Kopf landendes Düsenflugzeug und Bob Dylan mit seiner Band”, so Marlon Brando im Dezember 65) – 1978 nach der sog. Las-Vegas – Welttournee mit Rockorchester, schwarzem Mädchenchor und dem Strauß vergifteter Abschiedslieder an nicht nur eine besondere Frau, sondern vielleicht die Möglichkeit einer Verbundenheit von Gleich zu Gleich zwischen den Geschlechtern überhaupt – 1996 nach einer zähen Periode des Reproduzierens, Stimmverlusts und künstlerischen Schweigens (= auch Publikumsverlust, Anerkennungseinbuße in dramatischem Ausmaß – im Nachhinein wiedermal ‘ein Geschenk’: “Die Medien ließen mich seit Anfang der Neunziger links liegen – mir hätte nichts besseres passieren können”, B.D. 2001) – immer dann griff der Sänger auf das bewahrte Uralte zurück. Auf ein Stück vom Geheimnis. Folk music. 1967 waren es die irischen Balladen und der Bluesrock seiner Jugendzeit (‘Basement Tapes’), 1979 der fundamentale Gospel (‘Saved’) samt inniger Erlösungssehnsucht, 1997 war es die CD ‘Time out of Mind’, sein Comeback auf dem Weltmarkt – eine Sammlung von Liedern, die eigentlich keinen Autor mehr kennen, sondern eher das Modell eines uralten, in die Jetztzeit geschwappten Erzählers, der sich aus Gründen der Übereinkunft nun einmal Bob Dylan nennt.

“Niemand kann den Blues so singen wie Blind Willie Mc Tell”, hatte Dylan als Refrainzeile an ein düsteres Heimatland-Panorama von 1983 geheftet – wobei sein Heimatland in diesem Grenzbereichs-Lied gleich verdammt genannt wird, “verdammt von New Orleans bis runter nach Jerusalem” – eine Geografie, die Blind Willie Mc Tells Heimatgefühle wahrscheinlich überschreiten würde. Später sah es dann so aus, als würde die eingeschränkte, nicht so ausufernde Intensität des alten Bluesers (und seiner Kollegen) ausreichen müssen, den Sänger Dylan lebendig zu halten, denn vom Autor kam nichts weiter seit 1990. Bis er – aus Versatzstücken der folk music, gemischt mit den Bruchstücken einer beschränkten Biografie (alter Mann wirbt um eine Frau, die ihn erfreut hat, jetzt abweist, er verliert jeden Sinn und sehnt sich fort in ein Highland, das ein wenig der englischen Romantik abgetrotzt ist) – die persona enstand, die auf ‘Time out of Mind’ erzählt. Jemand, der sterben will. Der sich vielleicht ein letztes Mal mit einer jungen Kellnerin unterhält (das Gespräch endet im Desaster). Jemand, der gar nicht einverstanden ist mit den Dingen, wie sie sich um ihn ordnen: “Diese Lieder hängen wie selbstverständlich zusammen, denn sie teilen eine gewisse Skepsis. Sie widmen sich mehr den erbärmlichen Realitäten des Lebens, als daß sie den leuchtenden und rosigen Idealismus hervorbrächten, der heutzutage so populär ist.” (B.D. 1997) Auf ‘Time out of Mind’ singt wieder die altgewordene persona jener ersten LP von 1961, der Traditionalist, der fast verstummende Geheimnisträger. Das andere Amerika zeigt sich.”You can feel it, rather than think about it.”

Noch einmal hat sich das Blatt dann gewendet. Dylan – für ‘Time out of Mind’ von den Medien hochgelobt (zum ersten Mal seit 15 Jahren – während die Liebhaber, die den literarischen Texter verehrten, den Zyklus eher erschreckt und ein bißchen mokiert aufgenommen haben) – nutzte seine nächste CD “Love and Theft” (= Liebe und Raub, also genau der Umgang des Volkssängers mit den Traditionen) zu einer Art auktoraler Verjüngungskur (born again!) und schafft es augenblicklich noch einmal, mehrere Generationen, von 20 bis 70, unter dem Dach seines 40jährigen Oeuvres zu binden, mit einer neuen Stimme, die weiter kein verbittertes Keuchen, Markenzeichen der frühen 90ger, zuläßt. Ein offiziöser, scheinbar versöhnter Bob Dylan. Aber kein Westliche-Werte-Nationalist a la Neil Young – stoisch gegenüber den dread realities of life! Ehe ich meinen kleinen Gedanken ausklingen lasse mit der kurzen, hellwachen, anfangs erwähnten Ansprache, die Dylan 1991 anläßlich der Überreichung eines Lifetime Achievement Awards bei den Grammies in Anwesenheit von Jack Nicholson hielt, eine zentrale Randbemerkung:

Was hier Volksmusik genannt worden ist, hat mit dem Playback-Getue in unserer Heimat leider nichts zu tun. Volksmusik wird auch bei uns getrieben, aber sie hat kein Sprachrohr. Sie konnte die Ideologen aus allen Richtungen, die ihr immer einen Sinn außerhalb ihrer selbst anbefehlen wollen, nie abschütteln (schon in der Romantik nicht, als die Professoren so taten, als habe es keine einzelnen Erzähler im Volk gegeben, sondern als Autoren eigentlich nur die Sammler, keine Blind Willie Mc Tells, sondern nur die Alan Lomaxe = Gebrüder Grimm). Man muß vielleicht aus dem Kreis herausgetreten sein, um Heimat zu sehen. Vielleicht auch die Sehnsucht nachhause erlebt haben, um das Autoren-Getue ein wenig einzuschränken, das Liedermacherei in unserer Gegend so gern umgibt (und leider auch lächerlich gemacht hat). Muß man vielleicht Emigrant sein, um eine Wurzel zu spüren (ist es nicht mit dem Zahnweh ähnlich)? Auf jeden Fall ist man unter Emigranten zwangsläufig bereit für Fremdes, der Weiße für schwarz und umgekehrt. Musik ist ein unauffälliges, unbestechliches Werkzeug der Vermischung = Befruchtung der Kulturen, die ja auch wieder nur aus Mischzuständen zu dem geworden sind, was wir kennen. Wie erbärmlich die Abgrenzer, die keinen fremden Ton zulassen, wobei sie nicht merken, wie dann der eigene verkümmert. Ohne Schwarz und Weiß in Nordamerika kein Blues, kein Jazz, keine surreale Rapsodie. “You know, that we are strangers in a land, we’re passing through … You know, that our fathers were slaves, let us hope they found mercy in their bone-filled graves…” (B.D. 1979, in ‘Covenant Woman’ und ‘Precious Angel’, zwei Liedern an die schwarzen Frauen, die ihn mit Christus bekannt gemacht hatten).

Das Oeuvre und die tägliche Arbeit des Volkssängers Bob Dylan ist eine Abfuhr für jeden Rassismus, für Bildungsdünkel und Ideologien aller Art. Stattdessen ein krudes Leben mit Wurzeln – und Lieder für jede Gelegenheit.

Den Lebenspreis in den Händen, ihn fassungslos grinsend bestaunend, steht der zappelige, etwas aufgequollene, auch schmuddelige Jubilar 1991 auf der großen Bühne, seitlich von ihm eine smarte Schönheit, etwas verlegen noch seitlicher ein Jack Nicholson, der ihn gerade emphatisch The Transcendent genannt hat. Dylan will die Trophäe weggeben, behält sie dann doch, kramt in seinem Gedächtnis, sagt: “Nun, mein Vater war ein ziemlich einfacher Mann, er sagte immer -” lange Pause, “er sagte immer zu mir…” noch längere Pause, Irritation, erstes Kichern im Publikum – ist er weggedämmert da oben?, geich könnte es kippen, höhnisches Lachen – im letzten Moment fängt der Jubilar sich ab, in das Kichern hinein: “Er hat immer ziemlich viel gesagt, wisst ihr…” Erleichterung. Ein knapper Ruck geht durch den Sprechenden, und Dylan, als wenn er etwas lang Vorbereitetes loswerden würde, selbst ein wenig überrascht auch, daß er es wagt, zielt mit den folgenden Sätzen auf sein Publikum: “Er sagte: Sohn, es ist möglich auf dieser Welt so zu verkommen, daß die eigenen Eltern dich aufgeben werden. Und selbst wenn das passiert, wird Gott immer an deine Fähigkeit glauben, dass du dir einen Weg bahnst.”
Verbeugung – und ab.
Viel später hat jemand diese Sätze als eine beinah wörtliche Paraphrase aus der Predigt eines berühmten Wiener Rabbi erkannt. Neunzehntes Jahrhundert. Dies zu Heimat, Heimatlosigkeit und sich schließenden Kreisen.

MM, Februar 2002 (für das Magazin ‘Wir selbst’)

Anmerkung: Alle hier verwendeten Zitate sind paraphrasiert iwedergegeben – also sinngemäß und nicht wortwörtlich übersetzt.